Das Geheimnis von Winterset
eine unverbesserlich leichtfertige Person.
Angestrengt überlegte sie, was sie sagen konnte, um das neuerliche Schweigen zwischen ihnen zu durchbrechen.
„Ich hoffe, dass es den Dienstboten noch gelungen ist, das Haus rechtzeitig in Ordnung zu bringen."
Er lächelte ein wenig. „Der Butler war allem Anschein nach nicht sehr erfreut, mich jetzt schon hier zu sehen - zumal ich nicht alleine gekommen bin."
Seine Worte ließen sie aufhorchen. Wird er jetzt sagen, dass er verheiratet ist? Hat er seine Frau mitgebracht?
Womöglich sogar seine Familie? Anna wurde ganz beklommen zumute. „Tatsächlich? Sie sind in Gesellschaft angereist?"
„Ja, mit meiner Schwester und deren Mann. Die beiden sind möglicherweise daran interessiert, Winterset zu kaufen. Und meine kleinen Brüder, die Zwillinge, sind auch mitgekommen - sie haben gerade mal wieder keinen Hauslehrer." Nun lächelte er wirklich, und seine Augen funkelten belustigt und liebevoll zugleich.
Anna erinnerte sich noch sehr gut an diesen Blick, der sie stets hatte schwach werden lassen. „Ah, ja ... Constantine und Alexander", sagte sie rasch.
Er hob verwundert die Augenbrauen. „Sie erinnern sich noch an ihre Namen? Das überrascht mich."
Sie erwähnte lieber nicht, dass sie sich an sämtliche Einzelheiten erinnerte, die er ihr jemals erzählt hatte - ganz zu schweigen davon, dass sie im mädchenhaften Überschwang ihrer Gefühle alles auch ihrem Tagebuch anvertraut hatte. „Es sind Namen, die man nicht so leicht vergisst", beeilte sie sich daher zu sagen. „Zwei große Helden in einer Familie."
„Es sind auch zwei Jungen, die man nicht so schnell vergisst", fügte er in demselben ungezwungenen Ton hinzu, der nichts mehr von der Anspannung erkennen ließ, die zuvor in seiner Stimme gewesen war. Doch dann schien er sich wieder ins Gedächtnis zu rufen, wie die Dinge zwischen ihnen standen, denn er wandte den Blick ab, straffte die Schultern und kehrte zu seiner früheren Förmlichkeit zurück.
„Ich ... wie geht es Ihnen?", fragte er unvermittelt und sah sie mit gerunzelter Stirn an.
„Danke, es geht mir gut", erwiderte Anna, die wirkliche Anteilnahme in seiner Stimme vermisste. Fast aufgebracht hatte er geklungen.
„Dann hat sich hier also nichts ... Außergewöhnliches ereignet?"
Anna schaute ihn verdutzt an. Was will er denn damit sagen? Wollte er ihr zu verstehen geben, dass ihr ereignisloses Leben keinem Vergleich mit dem standhielt, was er ihr in London hätte bieten können? Empört hob sie das Kinn und blickte ihn herausfordernd an. „Nein, ich fürchte, dass sich in Lower Fenley nur äußerst gewöhnliche Dinge zutragen. Es ist hier wahrlich nicht so aufregend, abwechslungsreich und kultiviert, wie Sie es gewohnt sind."
Offenbar verärgert hob er bei ihren Worten eine Augenbraue. „Sie wissen doch gar nicht, was ich gewohnt bin", erwiderte er mit scharfer Stimme.
Sogleich hielt er inne und presste die Lippen zusammen, als wolle er zurückhalten, was ihm noch auf der Zunge lag. „Ich hätte niemals hierher zurückkehren sollen", meinte er schließlich, und seine Worte klangen bitter.
„Nein, vielleicht wäre das besser gewesen", stimmte Anna zu und wandte sich dann rasch ab, um die Tränen zu verbergen, die ihr plötzlich in die Augen traten.
„Anna ... " Er machte einen Schritt auf sie zu, blieb dann stehen und konnte einen leisen Fluch nicht unterdrücken.
Sie schluckte schwer und wusste, dass sie in Tränen ausbrechen würde, wenn sie auch nur ein Wort sagte. Eilig ging sie davon. Sie dachte, dass sie es nicht ertragen würde, wenn er ihr folgte, doch als sie hinter sich das Klappern der Hufe hörte, die sich in die entgegengesetzte Richtung entfernten, empfand sie auf einmal eine tiefe Kränkung. So eilig hatte er es also, ihr zu entkommen!
Sie drehte sich um und sah Reed nach. Er ritt im Galopp und machte im Sattel eine hervorragende Figur. Ihre Tränen nahmen Anna die Sicht. Sie blinzelte ungehalten, wandte sich wieder um und trat schnellen Schrittes den Heimweg an.
Während er nach Hause ritt, schimpfte Reed sich bestimmt ein Dutzend Mal einen Dummkopf. Er war in höchster Eile nach Winterset aufgebrochen, da ihm sein Traum nicht aus dem Kopf wollte, der ihn mit der unguten Gewissheit zurückgelassen hatte, dass Anna in Gefahr sei.
Aber seit er beschlossen hatte, hierher zu kommen, war eigentlich alles schiefgegangen. Und dabei hatte er einen ganz vernünftigen Grund gefunden, weswegen er nach Lower Fenley wollte -
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