Das Geheimnis von Winterset
vorsichtig danach erkundigt, was sich in letzter Zeit in der Gegend ereignet hatte. Allerdings musste er zu seiner großen Ernüchterung feststellen, dass scheinbar nichts Außergewöhnliches geschehen war. Er hatte versucht, seine Fragen nach Miss Holcomb beiläufig klingen zu lassen, meinte jedoch mit Sicherheit gesehen zu haben, wie Mr. Nortons Augen vielsagend funkelten, als der ihm versicherte, dass Miss Holcomb und ihr Bruder sich wie immer wohlauf befänden.
Reed beschlich der Gedanke, dass es etwas voreilig von ihm gewesen war, einem Traum so viel Bedeutung beizumessen - ganz gleich, wie wirklich ihm alles erschienen war und wie sehr es ihn aufgewühlt und beunruhigt hatte, so war es letztlich doch nur ein Traum gewesen. Und ein vernünftiger Mann, ermahnte er sich im Stillen, sollte sein Leben nicht nach seinen Träumen ausrichten.
Aber dennoch war es ihm nicht möglich, das Gefühl abzuschütteln, dass etwas Bedeutsames dahintersteckte, und er wusste, dass er auch mit Anna würde reden müssen, wenn er herausfinden wollte, ob sie in Gefahr war oder nicht.
Deshalb war er heute Nachmittag ausgeritten und hatte den Weg zu ihrem Haus eingeschlagen. Die Strecke war ihm noch wohlbekannt. Während des Monats, in dem er Anna den Hof gemacht hatte, hatte er sie oft zurückgelegt.
Nun wieder auf demselben Pfad zu reiten und die herrliche Landschaft um sich herum zu sehen, hatte ihn auf einmal mit einem tiefen Gefühl des Verlustes und des Bedauerns erfüllt.
Er wusste nicht genau, wie er vorgehen sollte. Von dem Butler auf Winterset hatte er erfahren, dass Sir Edmund, Annas Vater, vor zwei Jahren gestorben und ihr Bruder Christopher nun der Herr auf Holcomb Manor war. Reed kannte Sir Christopher nicht persönlich, und die gesellschaftlichen Gepflogenheiten sahen vor, dass Reed eher warten sollte, bis Christopher seinerseits ihn besuchen kam. Andererseits war Reed während der kurzen Zeit, die er hier gelebt hatte, häufig auf Holcomb Manor zu Gast gewesen, sodass er nicht wirklich gegen die Konventionen verstieße, wenn er Anna einen Besuch abstattete ...
Natürlich wäre es in hohem Maße peinlich.
Doch er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie er sonst mit ihr reden sollte. Ganz sicher hatte er nicht vor, untätig darauf zu warten, dass Sir Christopher ihm endlich seine Aufwartung machte und er selbst sich dann mit einem Gegenbesuch revanchieren könnte, oder dass Anna von sich aus seine Schwester besuchte, was er in Anbetracht der Umstände ohnehin für recht unwahrscheinlich hielt.
Es war ihm deshalb als ein Geschenk des Himmels erschienen, als er Anna vorhin aus der Ferne erblickt hatte, und voll gespannter Ungeduld versetzte er sein Pferd in einen leichten Trab.
Zutiefst erschüttert hatte sie ihn angesehen, und erst jetzt wurde ihm bewusst, dass seine heftigen Gefühle ungeduldiger Erwartung keineswegs der Situation angemessen waren. Ihm fiel auch sofort auf, dass die drei Jahre, in denen er Anna nicht gesehen hatte, ihrer Schönheit keinen Abbruch getan hatten - eher im Gegenteil, denn sie schien ihm nun noch schöner als zuvor.
Er war von seinem Pferd gestiegen und fühlte sich dann wie ein Narr, als er vor ihr stand - wusste er doch, dass Anna ihn gar nicht wiedersehen, geschweige denn mit ihm reden wollte. Ihre ganze Haltung drückte Abwehr aus, und ihm war, als würde sie sich jeden Augenblick einfach umdrehen und davonlaufen. Ihre Unterhaltung war mühselig und förmlich gewesen, und er hatte von Anna nichts erfahren, was er nicht bereits zuvor gewusst hätte.
Reed hatte sie nicht unumwunden fragen können, ob sie in Schwierigkeiten sei. Sie hätte ihn für verrückt gehalten.
Und wenn er ihr auch noch von dem Traum erzählt hätte, der ihn so eilig nach Winterset hatte aufbrechen lassen, wäre sie gänzlich davon überzeugt gewesen, dass er den Verstand verloren hatte. Es stand ihm nicht zu, Anna zu beschützen. Seit drei Jahren hatte er sie nicht ein einziges Mal gesehen, und bei ihrem letzten Treffen hatte sie seinen Antrag abgewiesen.
Das Schlimmste war jedoch, dass ihm im Laufe ihrer wenig erfreulichen Unterhaltung bewusst geworden war, dass er Anna am liebsten einfach in die Arme genommen und sie geküsst hätte. Nach all der Zeit, und trotz ihrer unumwundenen und eindeutigen Zurückweisung, begehrte er sie noch immer.
Was für ein Narr war er doch gewesen, hierher zurückzukehren! Reed kam nicht umhin, sich zu fragen, ob vielleicht gar nicht so sehr die böse Vorahnung
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