Das Geheimnis von Winterset
seines Traums ihn so eilig nach Winterset hatte kommen lassen, als vielmehr seine lange unterdrückte, aber ganz offensichtlich nie erloschene Leidenschaft für Anna.
Doch er durfte sich keine Hoffnungen machen ... hätte sich nie welche machen dürfen. Seine Rückkehr hatte nur Empfindungen geweckt, die er lieber hätte ruhen lassen. Drei lange Jahre hatte er damit zugebracht, über seine Liebe zu ihr hinwegzukommen, und nun wollte er sich wahrlich nicht der Gefahr aussetzen, sich erneut in Anna zu verlieben.
Ihm war klar, dass er abreisen sollte. Er sollte seinen seltsamen Traum vergessen und nach London zurückkehren, wo ihn ein vergnügliches und sorgenfreies Leben erwartete. Er würde nur noch erledigen, was er seiner Familie gegenüber als Grund für seine Reise nach Winterset angegeben hatte: ein bis zwei Tage lang eine Bestandsaufnahme des Hauses machen, die notwendigen Reparaturen in Auftrag geben und es zum Verkauf anbieten. Dann würde er nach London zurückkehren und Anna Holcomb vergessen.
Doch noch während er darüber nachdachte, wusste er bereits, dass er genau das nicht tun würde. Es war sicher nicht besonders klug zu bleiben, aber er würde nicht - nein, er konnte einfach nicht - von hier fortgehen.
Das Mädchen lief so schnell sie konnte durch das Unterholz. Sie war nicht gerne allein hier, wo die Bäume dicht beieinander wuchsen und die finstere Nacht sie mit einer Stille umfing, die nur gelegentlich von dem Schrei eines Tieres durchdrungen wurde. Selbst bei Tage war es im Wald so unheimlich, dass sie sich ängstigte, aber des Nachts schien alles noch einmal so bedrohlich ... voll dunkler, verborgener Dinge, die sie um sich herum spürte, aber nicht sehen konnte.
Ihr Liebster machte sich über ihre Ängste lustig. Er meinte, der Wald sei wie ein Mantel, der sich schützend um sie lege und sie verbarg. Sie konnten sich nirgendwo anders treffen. Nur in den nächtlichen Wäldern konnten sie ungestört zusammen sein und ihren wahren Gefühlen Ausdruck verleihen.
Und deshalb wagte sie sich immer wieder in das Dunkel des Waldes vor. Heute würde sie ihn treffen, wie schon so oft zuvor, und er würde ihr mit seinen Küssen die Angst nehmen, sie wegen ihrer Dummheit necken und sie dabei mit seinen Händen liebkosen. Es machte ihr nichts, dass er sich ein wenig über sie lustig machte und oft über Dinge sprach, die sie nicht verstand. Er liebte sie, und das allein war wichtig. Nie hätte sie sich träumen lassen, dass jemand wie er sie einmal lieben könnte. Und diese Gewissheit trug sie wie einen Talismann gegen die Dunkelheit bei sich.
Als es in den Büschen hinter ihr leise raschelte, lief ihr ein eisiger Schauder über den Rücken. Hastig sah sie sich um, konnte aber nichts erkennen. Sie raffte ihre Röcke zusammen und beschleunigte ihre Schritte. Es war nicht mehr weit bis zu dem Ort, an dem sie sich treffen wollten, und dann würde alles gut sein.
Plötzlich brach hinter ihr ein Ast entzwei, und das Geräusch ließ sie zusammenfahren. Sie drehte sich um und starrte angestrengt in die Dunkelheit. „Hallo?" Ihre Stimme klang dünn und zittrig. Es kam keine Antwort.
Da war nichts, versuchte sie sich zu beruhigen. Vielleicht spielte ihr Liebster ihr auch wieder einen seiner kleinen Streiche. Sie verstand seine Scherze nicht immer, und deshalb blieb sie einen Moment stehen, doch je länger sie wartete und in die Stille horchte, desto unruhiger wurde sie. Ihre Nerven waren zum Bersten gespannt, als es erneut im Unterholz raschelte. Diesmal kam das Geräusch aus einer anderen Richtung, und als sie herumfuhr, nahm sie eine kurze Bewegung wahr.
Wilde Angst erfasste sie, und sie fing an zu rennen. Sie rief seinen Namen, aber ihre Stimme verlor sich in der gewaltigen Stille des Waldes. Bald pochte ihr das Blut in den Ohren und ihr Atem kam nur noch in keuchenden Stößen.
Es verfolgte sie. Sie konnte das leise Knacken von Ästen hören und die dumpfen, hastigen Schritte. Sie rannte, und ihre Angst trieb sie immer weiter, aber es kam immer näher. Sie konnte seinen Atem dicht hinter sich hören, und dann rammte es sie mit aller Kraft.
Sie stürzte zu Boden und bekam keine Luft mehr, denn sein Gewicht auf ihrem Rücken nahm ihr den Atem. Als sie verzweifelt versuchte, sich zu befreien, knurrte es tief und bedrohlich. Tränen der Angst schossen ihr in die Augen.
Sie wollte sich umdrehen, um ihren Angreifer sehen zu können, doch er drückte ihren Kopf wieder zu Boden.
Aus dem Augenwinkel konnte
Weitere Kostenlose Bücher