Das Geheimnis von Winterset
seitdem sein Interesse für mehr als einen Tanz oder eine höfliche Konversation zu wecken vermocht. Immer noch dachte er hin und wieder an Anna, und jedes Mal, wenn er sich an sie erinnerte, spürte er erneut einen schmerzlichen Stich tief im Herzen. Aber vielleicht sollte er einfach froh darüber sein, dass dies nur ein schwacher Nachhall des Leids war, in dem er einst gefangen gewesen war.
Reed versuchte, nicht mehr an die Wunden der Vergangenheit zu denken und sich stattdessen erneut seinem Traum zuzuwenden. Er erinnerte sich noch genau an die Angst in Annas Augen und an den Schrei, der aus ihr hervorzubrechen schien, während sie vor etwas floh. Wovor rannte sie davon? Was hatte das alles zu bedeuten?
Und warum nur war er sich letztlich so sicher, dass dieser Traum ihn auf eine tatsächliche Gefahr für Anna hinweisen wollte?
Reed Moreland gehörte keineswegs zu jenen Männern, die an Visionen und Vorzeichen glaubten. Er hatte zwar eine Großmutter gehabt, die behauptete, mit den Verstorbenen in Verbindung zu stehen - woraufhin seine Mutter immer gesagt hatte, dass es typisch für ihre Schwiegermutter sei, ihre Verwandtschaft auch nach deren Tod nicht in Frieden zu lassen -, aber alle waren sich einig gewesen, dass Großmutter schon immer ein wenig schrullig gewesen sei. Wer bei klarem Verstand war, sah weder Dinge, die es nicht gab, noch empfing er geheimnisvolle Botschaften in seinen Träumen oder hörte himmlische Stimmen. Vernünftige, gebildete Männer wie er selbst folgten in ihrem Leben dem Prinzip der Logik und nicht irgendwelchem Aberglauben.
Gleichwohl konnte Reed nicht einfach so abtun, was seinen Schwestern vor zwei Jahren geschehen war. Sie waren keineswegs hysterische Frauen, die zu Ängstlichkeit und Ohnmächten neigten, doch sowohl Olivia als auch Kyria hatten mit seltsamen, geheimnisvollen Kräften Bekanntschaft gemacht, die sich nicht mit dem bloßen Verstand begreifen ließen. Seitdem hatten sie jedenfalls aufgehört, die Dinge grundsätzlich erklären zu wollen. Wenn auf dieser Welt tatsächlich unsichtbare Kräfte am Werk waren - und diese Möglichkeit mochte Reed mittlerweile nicht mehr ausschließen -, dann war es sehr wahrscheinlich, dass die Morelands einen ganz speziellen Zugang zu ihnen hatten.
Auch wenn es gegen seinen klaren Verstand ging, so konnte Reed doch nicht vergessen, wie gewaltig die Empfindungen gewesen waren, die ihn während seines Traumes durchfahren hatten. Dieses Erlebnis war zu wirklich gewesen, als dass er es einfach so abtun konnte. Anna ist in Schwierigkeiten. Daran konnte kein Zweifel bestehen - die Frage war nur, was er mit diesem Wissen anfangen sollte.
1. KAPITEL
Anna Holcomb stieg die Treppe zur Küche hinab. Es war ziemlich früh, und sie hatte noch nicht einmal gefrühstückt, aber sie wollte sich vergewissern, dass die Köchin nicht vergessen hatte, Backwerk für ihre Anstandsbesuche vorzubereiten. Sie musste heute davon zwei absolvieren, von denen der erste einem ihrer Pächter galt, dessen Frau gerade ein Kind bekommen hatte, und der andere würde sie zu ihrer allwöchentlichen Visite ins Pfarrhaus führen. Anna und ihr Bruder Kit waren die letzten Nachfahren der beiden Familien, die in dieser Gegend seit Jahrhunderten Macht und Einfluss hatten, und deshalb war es nun an ihr, sich um derlei gesellschaftliche Aufgaben zu kümmern. Anna hatte sich nie vor ihren Verpflichtungen gescheut - doch es gab manchmal Momente, in denen sie sich etwas ungehalten fragte, ob ihre sogenannten Pflichten nicht eigentlich ihr ganzes Leben ausmachten. Solche Momente waren aber zum Glück selten, und meist fand Anna sich ohne zu klagen mit den Dingen ab, wie sie eben waren. Sie war sich bewusst, dass sie eigentlich ein sehr sorgloses Leben führte, und es wäre töricht und kleinlich, sich über das Wenige zu beschweren, das ihr Kummer bereitet hatte.
Während sie über den Hauptkorridor in Richtung der Küche ging, sah sie, dass die niedrige Tür am Ende des Ganges offen stand. Diese war noch ein pittoreskes Überbleibsel des mittelalterlichen Klosters, auf dessen Grundmauern das Herrenhaus erbaut worden war. Eigentlich wurde dieser Eingang nur selten benutzt, und deshalb überraschte es Anna, als sie nun eine junge Frau verstohlen hereinkommen sah.
Das Mädchen fuhr erschrocken zusammen, als sie Anna erblickte. Ein schuldbewusster Ausdruck huschte über ihr Gesicht, und unschlüssig sah sie zur Hintertreppe, die nur wenige Schritte von Anna entfernt lag. Anna
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