Das Geheimnis
schmucklosen grauen Umhänge ihres Ranges gekleidet – schwenkten Weihrauchbrenner. Durch den erstickenden Rauch konnte Sano den zugedeckten Körper kaum erkennen, der auf dem Fußboden lag.
»Bitte wartet einen Moment auf dem Flur«, wandte Sano sich mit lauter Stimme an die Priester in ihren safrangelben Roben, die Hausmädchen und die weiblichen Beamten. Nachdem sie gegangen waren, bat er Hirata, den obersten Palastarzt zu holen.
Nachdem Hirata sich auf den Weg gemacht hatte, öffnete Sano das Fenster, damit der Rauch abziehen und Sonnenlicht in das schummrige Zimmer fallen konnte. Dann zog er ein zusammengefaltetes Tuch unter seiner Schärpe hervor und bedeckte damit Mund und Nase. Nachdem er seine Schärpe um die rechte Hand gewickelt hatte, um sich vor Ansteckung und spiritueller Verunreinigung zu schützen, kauerte er sich neben die Tote und schlug das weiße Leichentuch zurück.
Vor ihm lag eine junge Frau mit drallem Körper und straffen Gliedern; die Röcke ihres roten Gewandes waren vorn auseinander geschlagen und gaben den Blick auf ihre nackten Hüften und Beine frei. Sie besaß ein ovales, glattes Gesicht; noch immer war zu sehen, dass sie eine Schönheit gewesen sein musste, auch wenn ihr Mund nun blutverschmiert und ihr Kinn von Erbrochenem besudelt war. Auch der rote Seidenkimono und die Tatami-Matte, auf der die Tote lag, waren voller Blutflecken und Erbrochenem. Sano schluckte schwer. Heute Morgen erst war er wegen seiner Hochzeit so aufgeregt gewesen, dass er nichts hatte essen können; nun sorgte sein leerer Magen dafür, dass ihn heftige Übelkeit befiel. Voller Mitleid betrachtete er die Tote und schüttelte den Kopf. Konkubine Harume war in der Blüte ihrer Jugend gestorben. Plötzlich runzelte Sano die Stirn, als ihm etwas Seltsames auffiel. Der Körper Harumes war völlig verspannt, als wäre die Frau schon seit Stunden tot, obwohl sie erst vor kurzer Zeit gestorben sein konnte: Der Rücken war durchgebogen, die Hände zu Fäusten geballt, die Zähne aufeinander gepresst, die Glieder starr. Mit der umwickelten rechten Hand betastete Sano einen Arm der Toten. Er fühlte sich hart und steif an; die Muskeln waren verkrampft. Überdies kamen Sano die weit aufgerissenen Augen Harumes merkwürdig dunkel vor. Er beugte sich tiefer zu ihr hinunter und stellte bei näherem Hinsehen fest, dass die Pupillen extrem geweitet waren. Und schließlich war auf dem rasierten Schambein der Toten eine frische Tätowierung zu sehen; die Haut um die mit schwarzer Tusche ausgemalten Schnittwunden war noch immer rot und leicht gedunsen. Die Tätowierung erwies sich als das Schriftzeichen ai:
Als auf dem Flur plötzlich Schritte zu hören waren, hob Sano den Blick und sah, wie Hirata und der oberste Palastarzt das Gemach betraten. Sie kauerten sich neben ihn, drückten sich ebenfalls Tücher vor Gesicht und Mund und beugten sich vor, um die Leiche von Konkubine Harume eingehend zu betrachten.
»An welcher Krankheit ist sie gestorben, Doktor Kitano?«, fragte Sano mit dumpfer Stimme durch das Tuch vor dem Mund, das inzwischen feucht von Speichel war.
Der Arzt schüttelte den Kopf. Er hatte ein faltiges Gesicht und dünnes graues Haar, das im Nacken zu einem Knoten gebunden war. »Ich weiß es nicht. Ich bin seit 30 Jahren Arzt, aber so etwas habe ich noch nie gesehen. Der plötzliche Ausbruch der Krankheit … der schreckliche Todeskampf, die offensichtlichen Krämpfe … die geweiteten Pupillen, der plötzliche Eintritt des Todes … Ich stehe vor einem Rätsel. Und ich wüsste kein Heilmittel. Mögen die Götter uns beistehen, wenn diese Krankheit sich ausbreitet.«
»In meinem ersten Dienstjahr als Polizist«, sagte Hirata, »sind in Nihonbashi 300 Menschen an einem Fieber gestorben. Die Opfer hatten andere Krankheitsmerkmale als diese Frau, und der Tod trat nicht so schnell ein, aber die Auswirkungen waren schrecklich. Läden wurden geplündert, weil die Besitzer gestorben oder Hals über Kopf in die Berge geflüchtet waren. Feuer brachen aus, weil die Leute Kerzen oder Weihrauchbrenner angezündet hatten, um ihre Häuser rituell zu reinigen und den Fieberdämon fern zu halten. Berge von Leichen lagen auf den Straßen, weil man sie nicht schnell genug wegschaffen konnte. Der Rauch, der von den Scheiterhaufen aufstieg, bildete eine riesige schwarze Wolke über der Stadt.«
Sano bedeckte Harume wieder mit dem Leichentuch, erhob sich und steckte das Tuch ein, das er sich vor Mund und Nase gehalten hatte.
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