Das Geheimnis
Hirata und der Arzt taten es ihm nach. Auch Sano erinnerte sich an die Epidemie, von der Hirata gesprochen hatte. Die Vorstellung, eine noch schrecklichere Seuche könnte sich hier, im Herzen des japanischen Regierungsviertels ausbreiten, erfüllte ihn mit Entsetzen. Doch nach seinen bisherigen Beobachtungen ging ihm plötzlich eine andere, nicht minder beunruhigende Möglichkeit durch den Kopf.
»Hat Konkubine Harume vor ihrem Tod irgendwelche Anzeichen einer Erkrankung erkennen lassen?«, fragte er Dr. Kitano.
»Erst gestern habe ich die bei allen Konkubinen übliche monatliche Untersuchung bei ihr vorgenommen. Harume war kerngesund.«
Sanos Unbehagen wuchs, wenngleich seine Furcht vor einer Epidemie nach Dr. Kitanos Worten ein wenig schwand. »Waren andere Frauen krank?«, fragte er.
»Ich habe noch nicht alle untersucht, aber die oberste Verwalterin der Frauengemächer sagte mir, dass die Konkubinen zwar verängstigt sind, aber keine von ihnen irgendein körperliches Leiden zeigt.«
»Ich verstehe.« Sano hielt sich zwar zum ersten Mal im Inneren Schloss auf, doch er hatte schon vorher von der räumlichen Beengtheit und den schwierigen Lebensumständen der Konkubinen gewusst. »Die Frauen wohnen zusammen, schlafen zusammen, baden zusammen, bekommen das gleiche Essen und trinken das gleiche Wasser, nicht wahr? Und sie sind in ständigem Kontakt mit den Bediensteten, den für das Innere Schloss zuständigen Beamten und so weiter?«
»So ist es, sôsakan«, bestätigte der Arzt.
»Aber es gibt niemanden, der solche Auffälligkeiten zeigt wie Konkubine Harume vor ihrem Tod – Krämpfe, Übelkeit und so weiter?«
Der Arzt nickte. Sano wechselte einen Blick mit Hirata, auf dessen Gesicht sich erst Verstehen und dann Bestürzung spiegelten. »Doktor Kitano«, fuhr Sano fort, »ich glaube, wir müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Konkubine Harume vergiftet worden ist.«
Die bekümmerte Miene des Arztes wandelte sich zu einem Ausdruck des Entsetzens. »Sprecht nicht so laut, ich bitte Euch!«, sagte er, obwohl Sano leise geredet hatte. Nach einem verstohlenen Blick zur Tür fügte Kitano flüsternd hinzu: »Bei raschen, unerklärlichen Todesfällen ist heutzutage oft irgendein Gift der Grund für das Ableben.«
Sano nickte. Er wusste, dass Gift für gewöhnlich in Friedenszeiten benutzt wurde, und zwar von Leuten, die ihre Feinde beseitigen wollten, ohne sich auf Kampfhandlungen einzulassen. »Seid Ihr Euch eigentlich im Klaren darüber, welche Gefahren Ihr heraufbeschwört, indem Ihr eine solche Behauptung aufstellt?«, fragte Kitano.
Wieder nickte Sano. Die Nachricht von einem Giftmord, mochte sie nun wahr oder erfunden sein, würde eine Atmosphäre gegenseitiger Verdächtigungen hervorrufen, die nicht minder zerstörerisch wäre wie eine Epidemie. Die legendären Feindseligkeiten im Inneren Schloss würden an Heftigkeit zunehmen, vielleicht sogar zur offenen Gewalt ausarten, wie es in der Vergangenheit schon öfter geschehen war. Kurz bevor Sano nach seiner Ernennung zum sôsakan auf das Palastgelände übergesiedelt war, hatten zwei Konkubinen sich so heftig gestritten, dass es zu einem tödlichen Handgemenge gekommen war, wobei die Siegerin die Unterlegene mit einer Haarnadel erstochen hatte. Und vor elf Jahren war eine Palastbeamtin von einem Diener erwürgt worden, als sie im Badezuber saß. Und wenn die Nachricht von einem Giftmord nach außen drang, konnten schwelende Feindseligkeiten im Palast offen ausbrechen und dazu führen, dass es zu gewalttätigen, ja tödlichen Auseinandersetzungen nicht nur im Inneren Schloss, sondern unter den Soldaten und Beamten kam, die zumeist der Kriegerkaste der Samurai angehörten, wie auch Sano und Hirata.
Und wenn der Shôgun – der überaus empfindlich reagierte, wenn er seine Machtstellung in Gefahr glaubte – den Mord an Harume als einen Angriff auf sich selbst betrachtete? Sano vermutete, dass ein Blutbad ohnegleichen die Folge sein würde. Der bakufu, Japans Militärregime, würde alles tun, um eine mögliche Verschwörung aufzudecken und dabei die Gelegenheit nutzen, Rivalen zu beseitigen und alte Rechnungen zu begleichen. Man würde jeden Beamten unter die Lupe nehmen, von den fünf Mitgliedern des Staatsrats bis hin zum unbedeutendsten Schreiber; man würde die daimyo bespitzeln, die mächtigen Provinzfürsten, und deren Gefolgsleute; selbst die rônin, die herrenlosen Samurai, würden nicht von Nachstellungen verschont bleiben. Politisch
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