Das Geheimnis
ehrgeizige Männer würden versuchen, sich Vorteile zu verschaffen, indem sie ihre Rivalen verleumdeten; man würde »Beweise« für staatsfeindliche Umtriebe fälschen und Gerüchte in Umlauf bringen, bis der oder die angeblichen Verbrecher eines Tages hingerichtet wurden …
»Wir haben keinen Beweis, dass Konkubine Harume ermordet wurde«, sagte Dr. Kitano.
Als Sano die plötzliche Blässe des Arztes bemerkte, wurde ihm klar, dass Kitano, als oberster Arzt des Palastes, viel über Drogen wusste und bei einem Giftmord wie diesem als einer der Hauptverdächtigen gelten würde, der sich schrecklichen Verhören würde stellen müssen. Auch Sano verspürte nicht das geringste Verlangen, sich einer Überprüfung durch den bakufa zu stellen, denn er hatte einen mächtigen Feind, der nur auf eine Gelegenheit wartete, ihn zu vernichten: Kammerherr Yanagisawa. Und Sano wusste, dass er in Zukunft noch verletzlicher sein würde als bisher, denn nun hatte er eine Frau und einen Schwiegervater. Erst vor kurzem, in Nagasaki, hatte Sano die schrecklichen Folgen erlebt, wenn er seiner Neugier nachgab und seine Nase in politisch heikle Angelegenheiten steckte …
Dennoch: Wie stets zu Beginn einer Ermittlung drang Sano in eine Welt vor, in der Moral und Ehre schwerer wogen als der Gedanke an persönliche Sicherheit. Der Weg des Kriegers, der Bushido, war das Fundament, auf das sich die Ehre eines jeden Samurai gründete, dessen höchste Tugenden unbedingte Pflichterfüllung, Treue und Mut waren. Doch Sanos persönliche Auffassung vom Bushido beinhaltete eine vierte, ebenso bedeutsame Eigenschaft, die seinem Leben erst einen Sinn verlieh: der Wunsch, stets nach Wahrheit und Gerechtigkeit zu suchen. Deshalb musste Sano ungeachtet aller Gefahren herausfinden, wie Konkubine Harume gestorben war und warum.
Außerdem könnte es weitere Tote geben, falls man Harume tatsächlich ermordet hatte und Sano nichts unternahm. Insofern deckten seine persönlichen Ziele sich diesmal mit dem Bestreben, für die Sicherheit und den Frieden im Palast von Edo zu sorgen.
»Ihr habt Recht«, wandte Sano sich an Dr. Kitano. »Ich bin ebenfalls der Meinung, dass wir den Tod durch Krankheit noch nicht völlig ausschließen sollten. Vielleicht ist es ja doch eine Epidemie. Beendet die Untersuchungen der Konkubinen und sorgt dafür, dass sie eine Zeit lang von den anderen Bewohnern des Palasts abgesondert bleiben. Erstattet mir umgehend Bericht, sollte es zu weiteren Krankheits- oder Todesfällen kommen. Und lasst die Tote bitte in die Leichenhalle von Edo bringen.«
»In die städtische Leichenhalle?« Der Arzt blickte Sano ungläubig an. »Aber, sôsakan! Wie Ihr wisst, werden hochrangige Palastbewohner nicht in die Leichenhalle gebracht, sondern zum Zôjô-Tempel überführt, wo die feierliche Verbrennung stattfindet. Außerdem kann ich Harumes Leichnam noch nicht freigeben; erst muss ich einen Bericht über die Umstände ihres Todes erstellen. Dann müssen die Priester ihren Leichnam für die Verbrennung vorbereiten und ihre Gefährtinnen die Totenwache halten. So ist es Tradition.«
Sano schüttelte den Kopf. Er durfte das Risiko nicht eingehen, dass der Leichnam Harumes verbrannt wurde; dabei gingen möglicherweise wichtige Beweise verloren. »Sorgt dafür, dass die Tote in die Leichenhalle gebracht wird. Das ist ein Befehl!« Sano wollte dem Arzt nicht erklären, weshalb er so großen Wert darauf legte, dass Harumes Leichnam an einen Ort gebracht wurde, der üblicherweise gemeinen Bürgern, Verbrechern und Opfern von Naturkatastrophen, zum Beispiel Überschwemmungen oder Erdbeben, vorbehalten war; deshalb suchte er in der Schroffheit Zuflucht, statt Dr. Kitano seine Gründe ruhig und sachlich darzulegen.
Der Arzt eilte davon. Sano und Hirata ließen den Blick durch das Gemach schweifen. »Ob das Gift da drinnen gewesen ist?« Hirata zeigte auf zwei dünnwandige Schalen aus Porzellan, die neben Harumes zugedeckter Leiche auf der Tatami-Matte lagen; der Inhalt war ausgelaufen und hatte das Stroh der Matte dunkel gefärbt. »Vielleicht war jemand bei ihr und hat das Gift unbemerkt in ihren Sake geschüttet.«
Sano nahm einen Krug vom Tisch, der offensichtlich zu den beiden Schalen gehörte, schaute hinein und sah, dass sich noch ein Rest von dem Reisschnaps darin befand. »Den Krug und die Schalen nehmen wir als Beweisstücke mit«, sagte er. »Natürlich muss es nicht der Sake gewesen sein. Es gibt viele Möglichkeiten, jemanden zu vergiften.
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