Das Geheimnis
Fall zu lösen. Wenn ihm das Gerücht von dem Verhältnis zwischen Keisho-in und Harume zu Ohren kommt und er diesen Brief findet, beschließt er womöglich, die Fürstin des Giftmordes an Harume anzuklagen. Aber wenn er sich irrt, und die Fürstin ist unschuldig? In diesem Fall wird man ihn wegen Hochverrats hinrichten. Und ich, als seine Gemahlin, werde mit ihm sterben.« Reiko faltete die Hände im Schoß und versuchte, ihre Furcht zu unterdrücken. »Ich kann nicht sicher sein, dass mein Gemahl den wahren Mörder findet. Also kann ich nicht davon ausgehen, dass mir nichts geschehen wird. Habe ich deshalb nicht das Recht, selbst zu versuchen, mein Leben zu retten?«
Die Koto-Musik nahm einen helleren, freundlicheren Klang an, und sensei Fukuzawa nickte. »Wenn eine meiner ehemaligen Schülerinnen in Gefahr ist, helfe ich gern. Wartet einmal …« Während er weiter auf der Koto spielte, betrachtete er in Gedanken versunken ein Vergnügungsboot, das gemächlich auf dem Lotussee vorüberfuhr. Schließlich seufzte er und schüttelte den Kopf.
»Es hat keinen Sinn. Wenn man in meinem Alter ist, vergisst man Ereignisse, die erst kurze Zeit her sind. Dafür erstrahlen alte Erinnerungen umso heller. Ich kann mich noch genau an meine erste Vorstellung erinnern, aber der Monat, den ich im Palast zu Edo verbracht habe, scheint so weit entfernt …« Resigniert zuckte er mit den Schultern. »Die Konkubinen und ich haben während der Unterrichtsstunden viele Gespräche geführt. Es gab oft Streit zwischen ihnen, und wie unter allen Frauen gab es ständig Klatsch und Tratsch. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass die Konkubinen irgendetwas Außergewöhnliches gesagt oder getan hätten. Ich wüsste auch nicht, dass ich Konkubine Harume kennen gelernt hätte. Aber Ihr könnt mir glauben, dass ich nichts von einem bevorstehenden Mord geahnt habe.«
Er hielt kurz inne; dann fügte er hinzu: »Es tut mir Leid. Wie es scheint, habt Ihr die Strapazen der Reise umsonst auf Euch genommen. Bitte, verzeiht mir.«
»Aber gewiss. Es ist nicht Eure Schuld«, erwiderte Reiko und verbarg ihre Enttäuschung. Diesen Fehlschlag hatte sie sich selbst zuzuschreiben. In ihrer jugendlichen Überheblichkeit hatte sie ihre detektivischen Fähigkeiten und den Wert ihrer privaten Verbindungen überschätzt. Nun führte die Wirklichkeit ihr diese Selbsttäuschung schmerzlich vor Augen.
Damit hatte Reiko ihre letzte Spur verfolgt – und wieder ohne Ergebnis. Sie würde weder den Mordfall lösen noch ihr Leben retten. Sicher, sie hatte den Streit zwischen Harume und Ichiteru aufgedeckt, und sie hatte herausgefunden, dass Leutnant Kushida kurz von Harumes Ermordung in deren Gemach gewesen war; doch keine dieser Entdeckungen hatte ein vor Gericht verwertbares Ergebnis erbracht. Reikos Kummer verwandelte sich in Zorn auf sich selbst und auf ihr Geschlecht. Sie war bloß eine wertlose Frau, die ebenso gut nach Hause gehen und nähen konnte, bis die Soldaten kamen, um sie zum Hinrichtungsplatz zu führen.
Doch unter der Oberfläche ihres Zorns brodelte eine gefährliche Mischung widersprüchlicher Gefühle. Wenngleich Reiko bedauerte, Sano ihre Überlegenheit nicht beweisen zu können, indem sie ihn auf seinem eigenen Gebiet – der Ermittlungsarbeit – besiegte, erkannte sie ebenso deutlich, dass sie ihm helfen wollte, Konkubine Harumes Mörder zu finden, weil Sano ihr Mann war. Weil sie wollte, dass er sie mochte und achtete. Und zum ersten Mal trauerte Reiko um die verlorene Hoffnung auf Liebe.
Plötzlich endete die Musik der Koto in einem misstönenden Akkord. »Augenblick mal«, sagte sensei Fukuzawa. »Da fällt mir doch noch etwas ein. Eine seltsame Sache … Wie konnte ich es nur vergessen?« Verärgert über sein schlechtes Gedächtnis schüttelte er den Kopf, während in Reiko neue Hoffnung keimte. »Ich habe jemanden im Inneren Schloss gesehen, der dort nichts zu suchen hatte. Das war … wartet einen Augenblick … Ich glaube, es war vor zwei Tagen.«
»Aber vor zwei Tagen war Konubine Harume schon tot«, erwiderte Reiko und seufzte leise. »Ihr hättet gar nicht beobachten können, wie der Mörder ins Innere Schloss kam, um die Tusche zu vergiften. Es sei denn … seid Ihr ganz sicher, dass es zwei Tage sind?«
»Diesmal ja, denn es war sehr unangenehm für mich. Ich war gerade dabei, meine letzte Unterrichtsstunde im Inneren Schloss zu geben. Dann wollte ich aus dem Palast abreisen und meine Pilgerfahrt antreten. Nun, ich gab also die
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