Das Geheimnis
gesagt, dass Ihr eine Pilgerreise zu Tempeln und Heiligtümern im ganzen Land unternommen habt. Ich bin froh, dass ich Euch noch angetroffen habe, bevor Ihr Edo verlasst.«
»Ah, ja. Vor meinem Tod möchte ich die bedeutenden heiligen Orte des Landes besuchen. Aber nun nennt mir den Grund dafür, warum Ihr das plötzliche Verlangen verspürt, Euren alten Musiklehrer aufzusuchen.« Fukuzawa zwinkerte ihr zu. »Ich glaube kaum, dass Ihr weitere Stunden nehmen wollt.«
Reiko lächelte reumütig. Während der sechs Jahre, in denen sensei Fukuzawa sie gelehrt hatte, auf der Koto zu spielen, war Reiko eine widerspenstige Schülerin gewesen. Nach der letzten Unterrichtsstunde hatte sie das Instrument erleichtert zur Seite gelegt und es nie mehr angerührt. Mittlerweile war sie alt genug, dass sie bereute, die Bemühungen ihres sensei nicht gewürdigt und die Kunst, der er sein Leben gewidmet hatte, so leichtfertig verschmäht zu haben. Mit Unbehagen dachte sie daran, wie ihr Vater sie wegen ihrer Gutgläubigkeit und übertriebenen Selbstsicherheit ermahnt hatte, und dass Sano sich über ihre Widerspenstigkeit und Starrköpfigkeit beklagte. Reiko musste sich eingestehen, dass sie auch diese Eigenschaften besaß – und sie musste sie überwinden.
»Ich möchte mich entschuldigen, dass ich mich bei den Unterrichtsstunden damals so schlecht benommen habe«, sagte sie. »Außerdem habe ich Euch vermisst«, fügte sie hinzu und erkannte zum ersten Mal, wie sehr dies der Wahrheit entsprach. Anders als ihre Verwandten, hatte sensei Fukuzawa sie niemals beschimpft oder bestraft, wenn sie sich schlecht benommen hatte. Und anders als andere Lehrer, die Drohungen ausstießen, vor Wut tobten oder ihre Schüler sogar schlugen, wenn diese Fehler begingen, hatte Fukuzawa stets Geduld und Nachsicht gezeigt, statt zum Mittel der Einschüchterung zu greifen. Auf diese Weise hatte er Reikos eher dürftige musikalische Begabung voll ausgeschöpft und war ihr stets ein Trost gewesen, wenn sie von allen anderen gerügt wurde. Immerhin, erkannte Reiko, hatte sie sich insoweit gebessert, dass sie heute den Wert eines außergewöhnlichen Menschen wie Fukuzawa zu schätzen wusste.
»Ihr braucht Euch nicht zu entschuldigen. Mir genügt zu sehen, dass Euer Charakter gereift ist«, sagte der alte Musiklehrer nun, als hätte er Reikos Gedanken gelesen. »Aber ich nehme an, es gibt einen wichtigen Grund dafür, dass Ihr mir die Ehre Eurer Aufmerksamkeit zuteil werden lasst.« Er lächelte sanft.
»Ja«, gab Reiko zu. Sie erinnerte sich, dass Fukuzawa schon damals die Gabe besessen hatte, andere Menschen rasch zu durchschauen, als hätte das Studium der Musik ihm besondere Einsichten in den menschlichen Geist vermittelt. »Ich stelle Nachforschungen über den Mord an Konkubine Harume an, und mir wurde gesagt, Ihr hättet den letzten Monat im Palast verbracht und den Damen im Inneren Schloss Musikunterricht erteilt.« Tatsächlich hatten Fukuzawas Alter und sein Ruf ihn zu einem der wenigen Männer gemacht, denen der Zutritt ins Innere Schloss gewährt worden war. »Ich möchte gerne von Euch wissen, ob Ihr irgendetwas gesehen oder gehört habt, das mir helfen könnte, Harumes Mörder zu finden.«
»Ah.« Sensei Fukuzawa zupfte mit seinen knorrigen Fingern an den Saiten der Koto, während er Reiko betrachtete. Das Instrument gab eine düstere, klagende Melodie von sich. Obgleich die Miene und die Stimme des alten sensei lediglich freundliches Interesse erkennen ließen, konnte Reiko aus den Klängen der Koto seine Missbilligung heraushören. Rasch beteuerte sie ihrem alten Lehrer, dass ihr seine Meinung sehr wichtig sei. Nachdem sie ihm erklärt hatte, weshalb sie eigene Ermittlungen im Mordfall Harume anstellen wollte, erzählte sie ihm von ihren neuesten Erkenntnissen, die sie in ihrer Entschlossenheit bestärkt hätten, den Fall zu lösen.
»Meine Cousine Eri hat mir heute Morgen von einem Gerücht erzählt, das im Palast kursiert. Anscheinend hatte die Mutter des Shôguns ein Verhältnis mit Harume, das unglücklich endete. Es heißt, die Fürstin hätte Harume einen Brief geschrieben und ihr gedroht, sie zu ermorden. Deshalb glauben alle, dass Fürstin Keisho-in die Mörderin Harumes ist. Ich weiß nicht, ob es tatsächlich einen solchen Brief gibt – und wenn ja, ob er für die Schuld der Fürstin spricht. Aber der andere Hauptverdächtige meines Mannes – Leutnant Kushida – ist verschwunden. Mein Gatte steht unter gewaltigem Druck, den
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