Das Geheimnis
wussten, dass die Fürstin und der Priester die Vernehmung als Mordanklage auslegen und entsprechend zornig darauf reagieren konnten, indem sie Sano und Hirata ihrerseits des Hochverrats anklagten. Dann standen das Wort der mächtigsten Frau des Landes und ihres Geliebten gegen das des sôsakan und seines obersten Gefolgsmannes – und der Shôgun wäre der höchste Richter. Und die Aussichten, dass Tokugawa Tsunayoshi sich auf ihre Seite stellen würde statt auf die Seite seiner geliebten Mutter, waren mehr als gering.
Schaudernd stellte Sano sich vor, wie er auf den Hinrichtungsplatz geführt wurde und der Schatten des Scharfrichters über ihn fiel, der die Klinge des Richtschwerts hob. Und Reiko würde mit ihm sterben … Sano drehte sich der Magen um. Hirata schien es nicht besser zu ergehen, denn sein Gesicht zeigte eine ungesunde Blässe. Seltsamerweise hatte er geschlafen, als Sano nach Hause gekommen war. Nach dem Aufwachen war Hirata wie zerschlagen und eigenartig verwirrt gewesen, hatte aber beteuert, dass es ihm gut gehe. Dann hatte er von der Vernehmung Konkubine Ichiterus berichtet und sich anschließend in Schweigen gehüllt. Sano hatte Verständnis für ihn; die Aussagen Ichiterus mussten ein Schock für Hirata gewesen sein, und vielleicht gab er sich die Schuld daran, dass sie nun den gefährlichen Weg zu Fürstin Keisho-in und Ryuko antreten mussten.
»Es wird schon gut gehen, Hirata«, sagte Sano, doch die beruhigenden Worte galten nicht weniger ihm selbst.
Als sie Keisho-ins Gemächer betraten, sahen Sano und Hirata die Fürstin und Ryuko in der Wohnhalle sitzen, die von Lampen erhellt wurde. Sie trugen zueinander passende purpurne Schlafgewänder aus Seidenbrokat, die mit goldenen Chrysanthemen bedruckt waren. Sowohl die Farbe als auch die Blumen waren eigentlich dem Kaiserhaus in Kyôto vorbehalten. Der Kaiserin und dem Kaiser von Japan, ging es Sano durch den Kopf, als er daran dachte, was Ichiteru über die Pläne des Paares, das er nun vor sich sah, zu Hirata gesagt hatte. Die Fürstin und der Priester saßen an einem Kohleofen und hatten sich Decken über die Beine gelegt; um sie herum standen Schüsseln mit Suppe, frischem und eingelegtem Gemüse, Wachteleiern, gegrillten Garnelen, getrockneten Früchten und gedünstetem Fisch, dazu ein Krug Sake sowie eine Kanne Tee. Fürstin Keisho-in aß eine Garnele, während Ryuko soeben die Karten für ein Spiel austeilte. Er hielt inne, legte den Packen zu Boden und beobachtete Sano und Hirata mit wachsamen Augen, als die beiden Polizisten niederknieten und sich verbeugten.
Fürstin Keisho-in leckte sich die fettigen Finger ab. »Wie schön, Euch wieder zu sehen, sôsakan Sano. Und Euren Gehilfen.« Sie zwinkerte Hirata zu, der daraufhin zu Boden starrte. »Darf ich Euch eine Erfrischung anbieten?«
»Danke, aber wir haben schon gegessen«, log Sano der Höflichkeit halber, denn vom Geruch nach Fisch und Knoblauch wurde ihm beinahe übel; er hätte keinen Bissen herunterbekommen.
»Eine Schale Sake, vielleicht?«
»Ich glaube nicht, dass der sôsakan-sama zu einem Höflichkeitsbesuch gekommen ist, Herrin«, sagte Ryuko; dann wandte er sich Sano zu. »Was können wir für Euch tun?«
Wenngleich Sano dem Priester bei mehreren religiösen Feierlichkeiten begegnet war, hatten sie lediglich höfliche Grüße getauscht. Sano wusste jedoch natürlich, was man sich über Ryuko erzählte, und die heimelige Atmosphäre in der Wohnhalle schien die Gerüchte zu bestätigen, der Priester habe intime Beziehungen zur Fürstin. Als Sano nun Ryukos verschlagenem Blick begegnete, erkannte er, dass der Priester die treibende Kraft und die Klugheit verkörperte, die hinter der Macht der Fürstin stand – eine Feststellung, die Sano alles andere als fröhlich stimmte. Ihm wäre die gutmütige, dumme Keisho-in als der beherrschende Teil dieses Paares lieber gewesen; doch mit einem Verbündeten wie Ryuko brauchte die Fürstin weder boshaft noch gerissen zu sein, um einen Mord zu begehen.
»Bitte verzeiht unser Eindringen, ehrenwerte Fürstin, aber ich muss mit Euch über Konkubine Harume sprechen.«
»Haben wir das nicht schon?« Verwundert legte Fürstin Keisho-in die Stirn in Falten. »Ich wüsste nicht, was ich Euch noch über das Mädchen erzählen könnte.«
Hilfe suchend schaute sie zu Ryuko hinüber, doch der Priester starrte auf Harumes Tagebuch, das Sano in der Hand hielt. Sein Gesicht wirkte vollkommen ungerührt und gefühllos.
»Ich habe vor kurzem
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