Das Geheimnis
letzte Unterrichtsstunde, als ich plötzlich Darmkrämpfe bekam und zur Toilette eilte. Als ich ins Musikzimmer zurückkehrte, sah ich ihn auf dem Flur. Selbst falls er nichts mit dem Mord zu tun gehabt haben sollte, im Inneren Schloss geschehen seltsame Dinge, glaubt mir. Ich hätte den Vorfall melden sollen, vergaß es dann aber. Aber wenn ich Euch erzähle, was geschehen ist, und Ihr haltet es für wichtig, könntet Ihr Eurem Gemahl davon berichten, damit er die erforderlichen Schritte in die Wege leiten kann.«
»Was habt Ihr denn gesehen?«, fragte Reiko gespannt. Vielleicht war der Mörder an den Tatort zurückkehrt.
»Den no- Schauspieler Shichisaburô.«
Reiko war völlig verwirrt. »Den Geliebten von Kammerherr Yanagisawa? Aber Shichisaburô ist kein Verdächtiger. Und wie sollte er ins Innere Schloss gelangen? Selbst wenn es ihm gelungen wäre, sich an den Posten vorbeizuschleichen … hätten die Palastwachen ihn nicht hinausgeworfen?«
»Ich glaube nicht, dass ihn außer mir jemand erkannt hat«, erwiderte der alte Musiker, »denn er war als junge Frau verkleidet. Er trug den Kimono einer Dame und eine lange Perücke. Auf der Bühne spielt Shichisaburô oft Frauenrollen und weiß von daher, wie man sich als Frau bewegen und auftreten muss. Er sah aus, als gehöre er ins Innere Schloss. Auf den Fluren ist es schummrig, und er hat sorgfältig darauf geachtet, dass niemand ihm direkt ins Gesicht schauen konnte.«
»Woher habt Ihr gewusst, dass es Shichisaburô war?«
Sensei Fukuzawa kicherte. »Ich habe viele Jahre als Musiker bei Theateraufführungen gearbeitet. Ich habe Hunderte von Schauspielern gesehen. Ein Mann, der ein Frau spielt, verrät sein wahres Geschlecht durch bestimmte Kleinigkeiten, die das Publikum jedoch nicht bemerkt. Aber mein Blick war stets scharf. Nicht einmal der beste onnagata könnte mich täuschen. Bei Shichisaburô war es der Gang. Weil der Körper des Mannes muskulöser ist als der einer Frau, waren seine Schritte ein bisschen zu schwer und zu lang für eine Dame seiner Größe. Ich sagte mir sofort, dass ich einen jungen Mann und kein Mädchen vor mir habe.«
Furcht stieg in Reiko auf, als sie eine mögliche Erklärung für diese Täuschung erkannte. Wenn ihr Verdacht zutraf, konnte sie von Glück sagen, dass sensei Fukuzawa ein solch scharfer Beobachter war! Vielleicht konnte sie doch noch beweisen, dass sie eine gute und wertvolle Ermittlerin war – und zugleich ihr Leben retten. Doch trotz der Aufregung, die sie plötzlich empfand, zwang sie sich zur Selbstbeherrschung, um sich nicht zu falschen Schlüssen verleiten zu lassen.
»Wie könnt Ihr sicher sein, dass es Shichisaburô war und kein anderer Mann, wenn Ihr sein Gesicht nicht gesehen habt?«, fragte Reiko.
»Shichisaburô stammt aus einer alten, ehrwürdigen Schauspielerfamilie«, erwiderte sensei Fukuzawa. »Über Generationen hinweg haben sie eine ganz bestimmte Körpersprache für die Bühne entwickelt – kaum wahrnehmbare Gesten und Bewegungen, die nur ein Kenner des no- Dramas bemerkt. Ich habe Shichisaburô bei mehreren Auftritten beobachtet. Als ich ihn im Inneren Schloss um eine Ecke biegen sah, hob er den Saum seines Kimonos auf eine unverkennbare Art und Weise, die sein Großvater sich ausgedacht hat, den ich im Theater oft musikalisch begleitet habe.«
Sensei Fukuzawa verdeutlichte die Bewegung, indem er den Saum seines Kimonos zwischen den Daumen und zwei Finger der rechten Hand nahm; die beiden anderen Finger krümmte er zur Handfläche hin. »Es war unverkennbar Shichisaburô.«
»Was mag er im Inneren Schloss getan haben?«, murmelte Reiko.
»Ich war neugierig, deshalb bin ich ihm in einiger Entfernung gefolgt. Er schaute sich um, ob jemand ihm folgte, hat mich aber nicht bemerkt. Shichisaburô hat schlechte Augen wie alle in seiner Familie, doch als Schauspieler versteht er es sehr gut, so zu tun, als würde er hervorragend sehen. Er ging geradewegs zu den Gemächern der Fürstin Keisho-in. Vor den Türen standen keine Wachposten wie üblich, wenn ich für die Fürstin gespielt habe. Es war auch sonst niemand zu sehen. Shichisaburô betrat die Gemächer, ohne anzuklopfen. Ich wartete hinter einer Ecke des Flurs. Als Shichisaburô kurze Zeit später wieder zur Tür herauskam, trug er irgendetwas im Ärmel seines Kimonos. Ich hörte Papier rascheln.«
Reiko dachte an die Verbindung Shichisaburôs mit Kammerherr Yanagisawa, dem größten Feind ihres Mannes. Sie erinnerte sich an die Gerüchte
Weitere Kostenlose Bücher