Das Geheimnis
viele unserer Gäste.« Der Eigentümer zuckte erneut mit den Schultern und lächelte. »Tut mir Leid, dass ich Euch keine größere Hilfe bin.«
Leutnant Kushida war also nicht der geheimnisvolle Liebhaber Harumes gewesen; aber es handelte sich eindeutig um einen Mann, nicht um eine Frau. »Dürfte ich das Zimmer sehen, in dem sie sich getroffen haben?«, fragte Sano.
»Es ist zurzeit belegt. Außerdem wurde es nach dem letzten Besuch von Konkubine Harume gründlich gesäubert.«
»Würdet Ihr den Mann wieder erkennen?«
»Schon möglich.« Doch der Eigentümer schien selbst nicht so recht dran zu glauben.
Vielleicht war der Unbekannte ein Palastbewohner. Sano überlegte, ob er den Eigentümer dorthin mitnehmen und ihn bitten sollte, nach dem Liebhaber Harumes Ausschau zu halten. Aber der geheimnisvolle Unbekannte konnte ebenso gut jemand sei, den Harume außerhalb der Palastmauern kennen gelernt hatte. Vielleicht hatte sie ihn schon gekannt, bevor sie in den Palast gekommen und Konkubine des Shôguns geworden war. »Ich werde einen meiner Leute hier bei Euch postieren – für den Fall, dass der Mann wiederkommt«, sagte Sano zu dem Eigentümer. »Macht Euch keine Sorgen. Er wird Eure Gäste nicht stören.«
Als Sano den Gasthof verließ, hatte Enttäuschung sein anfängliches Hochgefühl verdrängt. Die Bestätigung, dass Harume einen geheimen Liebhaber gehabt hatte, brachte ihn der Lösung des Falles nicht näher. Stattdessen machten ihm nun andere Sorgen zu schaffen. Er fragte sich, ob er das Richtige getan hatte, was Hirata betraf. Hätte er seinen jungen Gefolgsmann nicht besser von den Ermittlungen abziehen sollen, damit er keine weiteren Probleme heraufbeschwor? Hätte er nicht besser andere Ermittler damit beauftragen sollen, die Ergebnisse seiner Nachforschungen über den Mord an Choyei und den Dolchangriff auf Harume zu überprüfen? Aber das wäre Verrat an Hiratas Treue und Vertrauen gewesen und hätte den jungen Mann vielleicht in den Selbstmord getrieben.
Und was Reiko betraf …
Sanos Herz strömte über vor Liebe zu seiner Frau. Deshalb fragte er sich besorgt, wie sie mit Fürst Miyagi zurechtkam. Wenngleich er wusste, dass er seine Ehe nur dadurch gerettet hatte, indem er Reiko die berufliche Partnerschaft versprochen hatte, bereute er jetzt schon zutiefst, sie auf eine solch gefährliche Mission geschickt zu haben. Falls Miyagi Harumes Mörder war, hatte er bereits eine junge Frau auf dem Gewissen. Und auch Reiko war jung, schön und sexuell anziehend, so wie Harume es gewesen war – eine verlockende Beute.
Dann aber verdrängte Sanos nüchterner Verstand seine Sorgen. Reiko hatte versprochen, vorsichtig zu sein. Und der daimyo würde es nicht wagen, die Gemahlin des sôsakan-sama anzugreifen. Außerdem war Leutnant Kushida noch immer der Hauptverdächtige. Sano zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder auf das Hier und Jetzt zu richten, zumal er nach wie vor der Ansicht war, den Schlüssel zu Harumes Geheimnis in dieser Gegend zu finden. Statt auf sein Pferd zu steigen, schaute Sano sich um. Sein Blick blieb auf einem Schild haften, das vor einem Tor auf der anderen Straßenseite hing. ›Hakka-Tempel‹ stand darauf. Sano erinnerte sich an das auf Papier gedruckte Gebet, das er in Harumes Gemach gefunden hatte, vermutlich ein Glücksbringer. Harume musste es vor oder nach einem ihrer Treffen mit Fürst Miyagi gekauft haben. Kurz entschlossen überquerte Sano die Straße und betrat den kleinen Tempelbezirk.
Die bescheidene Gebetshalle stand still und einsam da, ein Stück von den anderen Gebäuden entfernt. Hier gab es keine Musikanten, Akrobaten oder andere Unterhaltungskünstler, von denen die Massen angelockt wurden; nicht einmal einer der Priester war zu sehen. Vermutlich zogen sie durch die Straßen und bettelten um Almosen. Doch trotz der Leere und Verlassenheit um ihn herum spürte Sano Harumes Anwesenheit so deutlich wie die Berührung durch einen unsichtbaren Geist, der ihn am Ärmel zupfte. Als er in Richtung der Gebetshalle ging, hörte er Stimmen hinter dem Gebäude und folgte ihnen, bis er auf einen kleinen Friedhof gelangte. Die laublosen Äste der Weiden hingen tief über den kleinen Grabtempeln, die wie verloren im toten Gras standen. An einem dieser Tempel hatten sich vier Männer versammelt und sprachen über irgendetwas, das auf dem flachen Dach verstreut lag. Zwei der Männer trugen schmutzige, abgerissene Kleidung, und ihre fettigen und rußverschmierten Gesichter
Weitere Kostenlose Bücher