Das Geheimnis
übers Gesicht. Offensichtlich machte es ihn betroffen, dass sein Sohn ihren obersten Herrn verriet. »Nachdem die Dame die Fingernägel und das Haar gekauft hatte, hat unser Anführer uns befohlen zu gehen, während die Dame blieb.
Aber wir waren neugierig, deshalb haben wir uns hinter einer Mauer versteckt und gelauscht. Wir konnten nicht hören, was sie redeten, aber sie haben lange Zeit miteinander gesprochen. Dann ging die Dame zu dem Gasthof auf der anderen Straßenseite. Unser Anführer wartete an der Hintertür, bis die Dame ihn einließ.«
Wilde Freude erfasste Sano. Den Göttern sei Dank, dass er auf seine Ahnung gehört hatte! Der Geist Harumes hatte ihm die überraschende Identität ihres geheimen Liebhabers enthüllt: kein hoher Beamter, der einen guten Ruf besaß, den es zu schützen galt, sondern ein Mann, dessen Status als gesellschaftlich Ausgestoßener dem eher zweitklassigen Geschmack entsprach, den Harume offenbar von ihrer Mutter geerbt hatte.
Danzaemon, der Anführer der eta. Seine beiden Schwerter hatten den Eigentümer des Lokals zu dem Irrglauben verleitet, Danzaemon wäre ein Samurai.
»Ich flehe Euch an, ehrenwerter Herr, unseren Anführer nicht dafür zu bestrafen, dass er mit einer Dame aus dem Palast Verkehr hatte«, flehte der ältere eta. »Danzaemon weiß, dass es falsch gewesen ist. Alle haben versucht, ihn vor der Gefahr zu warnen. Hätte der Shôgun es herausgefunden, hätten seine Soldaten Danzaemon getötet! Aber seine Zuneigung war stärker.«
»Die Dame und er haben sich weiterhin getroffen, und nun ist sie tot.« Der jüngere eta seufzte. »Was für eine romantische und traurige Geschichte«, fügte er wehmütig hinzu. »Genau wie in einem Kabuki-Stück, das ich einmal gesehen habe, als ich die Straße im Theaterviertel reinigen musste.«
Die romantische verbotene Liebe, die den Anführer der Rechtlosen in Gefahr gebracht hatte, war für Konkubine Harume eine ebenso gefährliche Bedrohung gewesen, wie Sano wusste. Jede Untreue hätte den Zorn des Shôguns heraufbeschworen und den Tod Ha rumes nach sich gezogen. Aber eine Affäre mit dem Anführer der eta ? Die Strafe wäre nicht nur der Tod, sondern vor der Hinrichtung die schrecklichste Folter im Gefängnis von Edo gewesen; ein wütender Mob hätte Harume und ihren Geliebten auf dem Weg zum Richtplatz mit Steinen beworfen und sie übel beschimpft; man hätte ihre Leichen am Rand der Fernstraße zur Schau gestellt; jeder Vorbeikommende hätte die Körper als Warnung an andere Verbrecher schänden und verstümmeln dürfen. Jetzt verstand Sano die wahre Bedeutung bestimmter Sätze in dem verborgenen Abschnitt in Harumes Tagebuch:
»Wir liegen beieinander in den Schatten zwischen zwei Leben.« – »Dein Rang und dein Ruhm bergen Gefahren für uns beide.« – »Nie können wir Seite an Seite gehen in hellem Tageslicht.«
Harume und Danzaemon mussten sich sehr geliebt haben, dass sie die schrecklichen Konsequenzen einer Entdeckung riskiert hatten. Aber was war dann geschehen? Hatten die beiden sich zerstritten? War der Anführer der Ausgestoßenen Harumes Mörder? Sano fragte sich, ob er der Wahrheit über den Mord endlich nahe kam.
»Wo finde ich Danzaemon?«, fragte er die eta.
35.
D
ie riesige gemalte Landkarte Japans nahm in der Schreibstube von Kammerherr Yanagisawa im Palast eine ganze Wand ein. In einem tiefblauen Meer trieben die gewaltigen Landmassen von Hokkaidô, Honshu, Shikoku und Kyûshû; dazu eine Anzahl kleinerer Inseln. Schwarze Schriftzeichen zeigten die Lage von Städten; goldene Linien markierten die Grenzen zwischen den Provinzen, deren Namen in Rot aufgemalt waren; braune Dreiecke standen für Berggipfel; blaue Kreise und Schlangenlinien kennzeichneten die Lage von Seen und den Lauf von Flüssen, und grüne Flächen symbolisierten das Ackerland. Yanagisawa stand vor diesem Meisterwerk; in einer Hand hielt er eine Lackschatulle, die Nadeln mit runden Köpfen aus Jade, Elfenbein, Koralle, Onyx und Gold enthielt. Während der Kammerherr auf den Boten wartete, der ihm die Nachricht überbringen würde, dass Sano die Fürstin Keisho-in des Mordes angeklagt hatte, plante Yanagisawa seine ruhmreiche Zukunft.
Er rechnete nicht damit, dass Keisho-in verurteilt oder gar hingerichtet werden würde. Niemals würde der Shôgun die eigene Mutter töten lassen oder irgendeinen Skandal heraufbeschwören. Doch ihr Verhältnis würde nie mehr so sein wie zuvor. Der sanftmütige Tokugawa Tsunayoshi würde sich
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