Das Geheimnis
hier raus! Lasst mich fort! Beinahe hätte Reiko diese vehemente Ablehnung hervorgestoßen, hätte sie wegen der Übelkeit die Lippen nicht fest zusammengepresst. Sie schmeckte bittere Galle im Mund. Jeder Augenblick in Gesellschaft dieses Mannes, der sich am Tod junger Frauen weidete, war abscheulich und gefährlich zugleich.
»Ach ja, bitte, begleitet uns!«, drängte Fürstin Miyagi. »Mit Eurer poetischen Begabung werdet Ihr in der freien Natur viele Anregungen für neue Gedichte finden.«
Sano hatte Reiko gewarnt, sie solle auf der Hut sein, und schon der bloße Gedanke, die Miyagis in ihre Villa in den Bergen zu begleiten, erfüllte sie mit Entsetzen.
»Außerdem hätten wir dann Gelegenheit, einander besser kennen zu lernen, meine Liebe.« Das träge Lächeln des daimyo versprach eine Nacht voller verbotener, ungekannter Genüsse. »So weit von der Stadt entfernt, wird nichts und niemand uns stören.«
Reiko überlegte fieberhaft. Mochte Fürst Miyagi sie noch so sehr abstoßen, sie hatte keinen Beweis, dass er Harume vergiftet hatte. Die bloße Überzeugung, dass Miyagi der Mörder war, nutzte Reiko nichts. Sie brauchte Beweise oder ein Geständnis, und wenn sie jetzt aufgab, bekam sie weder das eine noch das andere. Sie musste die Gelegenheit nutzen, Fürst Miyagi wieder zu sehen.
»Ich danke Euch für die freundliche Einladung«, presste sie hervor. »Ich nehme sie gerne an.«
Überschwänglich begrüßten die Miyagis ihren Entschluss. Reiko spürte klammen, kalten Schweiß auf der Haut und zwang sich zu äußerer Gelassenheit, während sie mit ihren Gastgebern die Einzelheiten des Ausflugs besprach. Schließlich sagte sie: »Nun muss ich aber wirklich gehen, um mich auf die Reise vorzubereiten. Ich wünsche Euch noch einen guten Tag.«
Der Weg über das Anwesen des daimyo bis zur Straße dauerte eine Ewigkeit. Schwach und benommen stieg Reiko in die wartende Sänfte und hoffte, dass sie bis in die heimische Villa durchhalten würde, ohne dass die Übelkeit zu heftig wurde. Doch kaum hatte die Sänfte sich schwankend in Bewegung gesetzt, drehte sich Reiko der Magen um.
»Halt!«, rief sie den Trägern zu.
Sie sprang aus der Sänfte, rannte in eine Gasse und übergab sich, wobei sie die langen, weiten Ärmel ihres Kimonos in die Höhe hielt, um sich vor den Blicken Fremder zu schützen. Reiko fühlte sich augenblicklich besser, doch nun trat Entsetzen an die Stelle der Übelkeit. Wie sollte sie eine ganze Nacht in Gesellschaft der Miyagis ertragen? Mit unsicheren Schritten ging sie zur Sänfte zurück und tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie den Rest des Tages Zeit hatte, sich auf diese Tortur vorzubereiten. Sie durfte Sano nicht enttäuschen! Wenn es ihnen beiden nicht gelang, diesen Fall zu lösen, bedeutete es ihr Verderben. Sie musste Fürst Miyagi überführen und dafür sorgen, dass er vor Gericht gestellt wurde.
Wenn nur ihr Mut – und ihr Magen – sie nicht im Stich ließen.
34.
D
er Gasthof Tsubame, an dem Harume und Fürst Miyagi sich getroffen hatten, lag an einer ruhigen Nebenstraße in den Außenbezirken von Asakusa, fernab vom geschäftigen, lärmenden Tempelbezirk in Kannon. Die niedrigen, strohgedeckten Gebäude des Gasthofs drängten sich hinter einem hohen Bambuszaun. Auf der anderen Straßenseite stand ein kleiner Tempel, der von einem Erdwall umschlossen war. In der unmittelbaren Nachbarschaft des Gasthofs erhoben sich die schmucklosen Fassaden von Lagerhäusern.
Vor dem Eingangstor schwang Sano sich vom Pferd und ließ den Blick über die menschenleere Straße schweifen. In der Nähe kreisten Vögel über Reisfeldern. Einen abgeschiedeneren, intimeren Ort für ihre Begegnungen hätten der daimyo und Harume kaum finden können. Doch Sano war nicht hierher gekommen, um der Affäre zwischen der Konkubine und dem Fürsten nachzugehen. Er wollte einen Verdacht überprüfen.
Sano ging durch das Tor, hinter dem sich ein geschmackvoller, künstlich angelegter Garten mit immergrünen Pflanzen, Kirschbäumen und rotblättrigem Ahorn befand; die Umgebung ließ erkennen, dass die Gäste des Tsubame der besseren Gesellschaft angehörten. Niemand war zu sehen; Türen und Fensterläden waren geschlossen. Doch Sano hörte Stimmengemurmel hinter dünnen Wänden, und der Geruch von Speisen stieg ihm in die Nase. Wasserdampf drang aus den Türritzen des Badehauses und zerfaserte an der klaren Luft. Sano vermutete, dass bei einer polizeilichen Durchsuchung des Gasthofs Tsubame die
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