Das Geheimnis
waren die Gesichter der Armut. Die beiden anderen Männer dagegen waren wohlgenährt und in schmucke, gefütterte Umhänge gehüllt. Als Sano näher kam, hörte er einen von ihnen sagen: »Fünf momme für das Ganze.«
»Aber sie sind ganz frisch, Herr«, erwiderte einer der Zerlumpten. »Wir haben sie erst gestern bekommen.«
»Ja, von einer jungen Frau«, fügte der andere hinzu. »Wie geschaffen für Eure Geschäfte, edle Herren.«
Der zweite Gutgekleidete sagte: »Also schön, sechs momme. «
Während das Feilschen seinen Fortgang nahm, schlich Sano näher heran und sah, um welche Ware es ging: zehn menschliche Fingernägel, die neben mehreren Büscheln schwarzen Haares lagen. Sano musste an die Nägel und das Haar denken, die er in Harumes Gemach gefunden hatte und empfand einen Hauch von Genugtuung, als sich endlich ein Steinchen des Mosaiks in das Gesamtbild fügte.
Die zerlumpten Männer waren Leichenhändler, rechtlose eta, die Körperteile von Toten raubten. Ihre Kunden waren Bordellbedienstete, die diese Überreste für die Kurtisanen kauften, die sie als die eigenen Nägel oder Haarsträhnen ausgaben und ihren Freiern als Liebesbeweise schenkten. Offenbar hatte auch Harume nach einem ihrer Treffen in der Gaststube den Tempelbezirk besucht, war auf die eta getroffen und hatte deren Waren gekauft, um sie Liebhabern zu schenken, wie ihre Mutter, die Prostituierte – der ›Nachtfalter‹ –, es vermutlich auch getan hatte. Sano sah seine anfängliche Vermutung bestätigt. Aber was hatte diese Sache mit Harumes Ermordung zu tun – falls überhaupt?
Silbermünzen wechselten die Besitzer; dann trennten sich Käufer und Verkäufer. Als die eta plötzlich Sano erblickten, warfen sie sich demütig zu Boden. »Bitte, Herr, wir haben nichts Böses getan!«
Sano verstand die schreckliche Angst dieser Männer; ein Samurai durfte einen eta nach Lust und Laune töten, ohne eine Bestrafung befürchten zu müssen. »Habt keine Angst. Ich möchte Euch nur ein paar Fragen stellen. Steht auf.«
Die eta gehorchten und drängten sich ängstlich aneinander, die Blicke demütig gesenkt. Der eine war alt, der andere jung; beide besaßen die gleichen knochigen Gesichtszüge. »Jawohl, Herr«, sagten sie im Chor.
»Hat eine schöne junge Dame in kostbaren Gewändern jemals Fingernägel und Haarsträhnen bei Euch gekauft?«
»Ja, Herr«, stieß der jüngere eta hervor, der große, stumpfe Augen besaß, die ihn dümmlich und naiv erscheinen ließen.
»Wann war das?«, fragte Sano.
»Im Frühling«, antwortete der junge Mann trotz der verzweifelten Gesten seines Kumpans, er solle den Mund halten.
»War ein Mann bei ihr?«
Der ältere eta schlug den jungen Burschen. »Autsch!«, rief der. »Warum hast du das getan, Vater?« Dann hüllte der junge Mann sich in beleidigtes Schweigen.
»Sagt mir, was ihr über die Dame wisst«, verlangte Sano.
Irgendetwas in seiner Stimme oder seinem Auftreten hatte den jungen Mann offenbar für ihn eingenommen, denn er warf seinem Vater einen trotzigen Blick zu und sagte: »Zufällig war unser Anführer an dem Tag bei uns. Er machte eine seiner Rundreisen, bei denen er nach dem Rechten sieht.«
In Japans streng reglementierter Gesellschaft war jede soziale Schicht organisiert. Die Samurai dienten als Gefolgsleute der Fürsten und des Hochadels; die Händler und Handwerker waren in Zünften zusammengeschlossen; die Priester und Mönche in ihren Tempelgemeinschaften. Jede gesellschaftliche Gruppe hatte ihren Herrn oder Anführer, sogar die rechtlosen eta. Ihr Anführer besaß einen erblichen Rang, der vom Vater an den Sohn weitergegeben wurde; der eta- Führer besaß sogar das Privileg, zwei Schwerter zu tragen wie ein Samurai und zeremonielle Kleidung anzulegen, wenn er in amtlichen Angelegenheiten vor den hohen Beamten Edos erschien. Diese Ehre war jedoch mit der Verantwortung verbunden, die Menschen seines gesellschaftlichen Standes zu überwachen – ihr Tun, ihr Denken, ihre Wünsche und Hoffnungen. Plötzlich hatte Sano eine ungefähre Ahnung davon, wie der Anführer der Ausgestoßenen in das geheimnisvolle Bild passte.
»Während wir mit der schönen Dame verhandelt haben«, fuhr der junge eta fort, »hat sie immerzu unseren Anführer angeschaut, und der hat ihre Blicke erwidert. Sie haben kein Wort miteinander gesprochen, aber wir konnten sehen, dass zwischen den beiden irgendetwas vor sich ging – nicht wahr, Vater?« Der ältere Mann duckte sich und fuhr sich mit der Hand
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