Das Geheimnis
Tod die Anschuldigungen gegen Euch fallen gelassen wurden, sodass Ihr Euer Amt wieder ausüben könnt«, entgegnete Sano.
»Meint Ihr, mein Posten bedeutet mir noch etwas?«, rief Kushida, dessen Gesicht vor Zorn rot angelaufen war. Neugierige Passanten blieben stehen und starrten auf die beiden Männer. »Was bedeuten mir Rang, Ansehen, Geld, sogar die Ehre – jetzt, wo Harume tot ist?«
Sano wich mit erhobenen Händen zurück. »Beruhigt Euch«, sagte er, denn erst jetzt wurde ihm klar, wie gefährlich die Liebe, der Zorn und die Trauer den Leutnant aus dem inneren Gleichgewicht gebracht hatten.
»Ohne Harume ist mein Leben nichts mehr wert!«, brüllte Kushida. »Verhaftet mich, verurteilt mich, lasst mich hinrichten – es ist mir egal! Aber zum letzten Mal: Ich habe Harume nicht ermordet! «
Kushida fletschte die Zähne wie ein wildes Tier und atmete so heftig, als wolle er sein Inneres mit wildem Zorn füllen. Sein Gesicht hatte wieder jenen Furcht erregenden Ausdruck angenommen wie bei dem Übungskampf. Plötzlich sprang er vor und stieß mit dem Speer nach Sano. Der wich zur Seite und packte den Griff der Waffe. Kushida spie wilde Flüche aus, und zwischen ihm und Sano entbrannte ein Kampf um den Speer.
»Nein, Kushida-san! Hört auf!« Koemon und die anderen Lehrer stürmten durch die Tür. Sie packten den Leutnant, zerrten ihn von Sano weg und entrissen ihm den Speer. Während Kushida schrie und um sich schlug, warfen die Lehrer ihn auf den Boden der Veranda, doch es brauchte fünf Mann, um den Tobenden festzuhalten. Die Schüler beobachteten das Geschehen fasziniert und entsetzt zugleich. Von der Straße aus johlten und pfiffen die Gaffer. Dann brach Kushida in lautes, irres Gelächter aus, bis er abrupt verstummte.
»Harume!«, rief er mit einem Mal jammervoll. »Harume!« Sein Körper wurde von Schluchzern geschüttelt.
Ein Palastbote kam zur Akademie geeilt; er hatte einen Stock auf den Rücken geschnallt, an dem eine Flagge mit dem Wappen der Tokugawa flatterte. Er verbeugte sich vor Sano. »Eine Nachricht für Euch, sôsakan-sama«, sagte er und hielt ihm einen köcherartigen, verschlossenen Behälter aus Lackarbeit hin, in dem eine Schriftrolle steckte.
Sano öffnete den Behälter, zog die Rolle heraus und las. Das Schreiben war bereits früher an diesem Morgen zu seiner Villa gesandt und von dort an ihn weitergeleitet worden. Es stammte von Dr. Ito. Er teilte Sano mit, dass der Körper von Konkubine Harume in der Leichenhalle von Edo eingetroffen sei und dass er bereit wäre, die Untersuchung der Toten vorzunehmen, sobald Sano bei ihm erschiene.
»Sorg bitte dafür, dass Kushida sicher nach Hause kommt«, wandte sich Sano an Koemon. Später wollte er sich mit dem Kommandeur der Palastwache in Edo in Verbindung setzen und ihm den Rat erteilen, die Wiederindienstnahme Kushidas aufzuschieben: Ob unschuldig oder nicht – der Leutnant war noch nicht in der Verfassung, aktiven Dienst zu leisten.
Nach einem kurzen Besuch bei seiner Mutter ritt Sano zur Leichenhalle von Edo, wobei er über sein Gespräch mit Kushida nachdachte. Wie leicht Eifersucht und Schmerz die Liebe des Leutnants zu Harume in Hass verwandelt hatten! Doch es gab eine Sache, die gegen eine Schuld Kushidas sprach: Sano hatte beobachtet, dass die Gefühle dieses Mannes sich in oft plötzlichen, wilden, mitunter gewalttätigen Ausbrüchen äußerten. Überdies war der Speer Kushidas bevorzugte Waffe. Würde er demnach nicht einen Speer benutzen, wenn er jemanden töten wollte? Der Mord an Konkubine Harume war jedoch listig geplant und tückisch verübt worden. Außerdem war Sano der Ansicht, dass Gift eher von Frauen benutzt wurde.
Deshalb fragte er sich, wie Hirata wohl beim Verhör von Konkubine Ichiteru vorankam, Harumes Rivalin.
10.
D
as Theaterviertel Saru-waka-chô befand sich unweit des Stadtbezirks Ginza, der nach der Silbermünze der Tokugawa benannt war. Auf bunten Schildern wurden die Aufführungen angekündigt; Musik, Beifall und Gejohle klangen aus den offenen Fenstern in den oberen Etagen der Theatergebäude. In hölzernen Türmen, die auf den Hausdächern errichtet waren, saßen Männer und schlugen Trommeln, um das Publikum herbeizulocken. Besucher jeden Alters und aus sämtlichen Gesellschaftsschichten standen in den Schlangen vor den Kassenhäuschen, und auch die Teehäuser und Essstuben waren gut besucht. Hirata stellte sein Pferd in einem Mietstall unter und setzte den Weg durch die lärmende Menge zu
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