Das Geheimnis
Fuß fort. Auf Sanos Befehl hin hatte er bereits zwei Gruppen von Sonderermittlern losgeschickt; die eine suchte den fahrenden Händler Choyei – jenen Mann, der seltene Heilkräuter und Drogen verkaufte –, während die zweite Gruppe das Innere Schloss nach Gift und anderen Beweisstücken durchsuchte.
Noch bevor Hirata sich auf den Weg zu den Frauengemächern gemacht hatte, um Ichiteru zu vernehmen, war er darüber informiert worden, dass die Konkubine den heutigen Tag im Puppentheater Satsumaza verbringen wollte. Als Hirata sich nun dem Theater näherte, ließen die wachsende Anspannung und Unruhe sein Herz schneller schlagen.
Er hatte gelogen, als er Sano gesagt hatte, dass alles in Ordnung sei; es war lediglich der Versuch gewesen, sich selbst davon zu überzeugen, die Vernehmung einer Dame wie Konkubine Ichiteru allein führen zu können. Nicht dass Frauen Hirata einschüchterten, so wie am Abend zuvor Fürstin Keisho-in und Hofdame Chizuru. Hirata war keineswegs schüchtern, und er hatte schon eine ganze Reihe von Liebschaften mit Hausmädchen und Töchtern von Ladenbesitzern gehabt. Die Frauen mächtiger Männer jedoch weckten ein Gefühl der Unterlegenheit, ja Minderwertigkeit in ihm. Für gewöhnlich war Hirata stolz auf seine bescheidene Herkunft und darauf, wie weit er es dessen ungeachtet gebracht hatte. Was Mut, Klugheit, Kraft und das Geschick im Umgang mit Waffen betraf, konnte Hirata es mit vielen hochrangigen Samurai aufnehmen, und das wusste er; deshalb trat er seinen männlichen Vorgesetzten stets selbstsicher entgegen. Aber die edlen Damen …
Ihre Eleganz und Schönheit erweckten immer wieder hoffnungslose Sehnsüchte in Hirata. Mit seinen 21 Jahren war er noch unverheiratet – ein hohes Alter für einen Junggesellen. Doch Hirata hatte bislang deshalb auf eine Ehe verzichtet, weil er die Hoffnung gehegt hatte, eines Tages in einen so hohen Rang aufgestiegen zu sein, dass er eine vornehme Dame heiraten konnte, die nicht so schwer würde schuften müssen wie seine Mutter, die sich ohne jede Hilfe von Dienerinnen um Haus und Familie kümmerte. Dieses Ziel hatte Hirata erreicht, als er Sanos oberster Gefolgsmann geworden war; seine Familie hatte bereits Angebote vornehmer Familien erhalten, die eine engere Bindung zum Hof des Shôguns suchten und Hirata die Ehe mit ihren Töchtern in Aussicht stellten. Sano, der Vertraute des Shôguns, würde als Heiratsvermittler auftreten. Dennoch hatte Hirata es immer noch nicht gewagt, eine junge Frau aus vornehmem Hause zu ehelichen. Damen aus hochrangigen Familien vermittelten ihm trotz all seiner Erfolge noch immer das Gefühl, ungehobelt, schmutzig und minderwertig zu sein. Hirata war sicher, dass er sich niemals als würdig erweisen würde, in eine der angesehenen Familien einzuheiraten und eines der vornehmen Mädchen zur Frau zu nehmen.
Schließlich blieb Hirata vor dem Satsuma-za-Theater stehen. Es war kein Gebäude, sondern eine große Freiluft-Bühne: Hölzerne Wände umgaben einen Hof, auf dem sich die Zuschauerplätze und die Bühne befanden. Über dem Eingang waren fünf gefiederte Pfeile zu sehen – das Symbol des Puppentheaters –, die in einem Balken steckten, von dem indigofarbene Vorhänge mit dem Wappen des Satsuma-za-Theaters hingen. Auf breiten Stoffbahnen waren die Titel der Stücke zu lesen, die zurzeit aufgeführt wurden. Ein Mann saß auf einer Plattform und nahm die Eintrittsgelder entgegen, während ein anderer den Eingang bewachte, einen niedrigen, schmalen Durchgang in der Holzwand, der verhinderte, dass Theaterbesucher sich einschlichen, ohne bezahlt zu haben. Hirata beschloss, sich von Konkubine Ichiteru nicht so sehr einzuschüchtern zu lassen wie von der Mutter des Shôguns. Giftmord – ein heimtückisches Verbrechen, bei dem der Täter sein Opfer nicht direkt attackieren musste – war die klassische Methode weiblicher Mörder; allein schon aus diesem Grund war Ichiteru eine der Hauptverdächtigen.
»Einmal, bitte«, sagte Hirata zu dem Kassierer und bezahlte das Eintrittsgeld, wurde durchgelassen und gelangte in den Eingangsbereich des Theaters. Gerade war Pause zwischen zwei Aufführungen; die Vorstellungen dauerten den ganzen Tag lang, da ein Stück nach dem anderen gezeigt wurde. Im Eingangsbereich drängten sich die Theaterbesucher, welche sich an Essständen mit Reiskuchen, Früchten, gerösteten Melonensamen, Tee und Sake versorgten. Hirata zog seine Schuhe aus, stellte sie zu den unzähligen anderen und
Weitere Kostenlose Bücher