Das Geheimnis
doch Kushida kämpfte weiter, als ginge es um sein Leben. Sano erkannte in dem Mann jene Art Samurai, der seine Emotionen eisern unter Kontrolle hielt, um ihnen bei Gelegenheiten wie diesen explosionsartig freien Lauf zu lassen. Inzwischen musste der Leutnant von Harumes Ermordung erfahren haben. Zeigte Kushida durch diese Brutalität und Härte seine Trauer, oder waren sie Ausdruck einer mörderischen Veranlagung, die diesen Mann dazu gebracht hatte, Konkubine Harume zu töten?
Binnen weniger Augenblicke lagen sämtliche Schüler besiegt am Boden; sie stöhnten un d rieben sich die getroffenen Körperstellen. »Ihr Schwächlinge! Ihr trägen Trampel!«, schimpfte Kushida. Er atmete schwer; Schweiß lief ihm über den rasierten Sch eitel und tropfte zu Boden. »Wäre das ein richtiger Kampf gewesen, wärt ihr alle tot. Ihr müsst noch härter üben.«
Erst jetzt fiel sein Blick auf Sano. Sein Körper spannte sich, und er hob seinen Speer, als wolle er sich auf einen weiteren Angriff vorbereiten. Mit düsterer Miene sagte er: » Sôsakan-sama. Ihr habt nicht lange gebraucht, um mich zu finden.« Seine normale Stimme klang ruhig und fest. »Wer hat Euch von mir erzählt? Diese alte Kuh, Hofdame Chizuru?«
»Wenn Ihr wisst, weshalb ich hier bin, möchtet Ihr dann nicht lieber mit mir nach draußen gehen, wo wir unter vier Augen reden können?«, fragte Sano mit einem demonstrativen Blick auf die neugierigen Schüler.
Kushida zuckte mit den Schultern und ging zur Tür. Er bewegte sich mit kraftvoller, drahtiger Geschmeidigkeit; die Muskeln seiner dünnen Arme und Beine waren wie stählerne Seilbündel. Kushida schöpfte einen Becher Wasser aus einem Holzeimer, und Sano folgte ihm auf die Veranda hinaus, wo sie sich beide setzten. Ein nicht abreißender Strom von Bauern und berittenen Samurai bewegte sich über die Straße.
»Erzählt mir, was zwischen Euch und Konkubine Harume gewesen ist«, sagte Sano.
»Weshalb müssen wir darüber reden, wo Ihr ja doch schon alles wisst?« Kushida warf den Speer zu Boden und nahm einen tiefen Schluck aus dem Becher; dann starrte er Sano an. »Wieso verhaftet Ihr mich nicht einfach? Man hat mich vom Dienst entbunden. Ich habe Schande über mich und den Namen meiner Familie gebracht. Wie kann es da noch schlimmer für mich werden?«
»Die Strafe für Mord ist die Hinrichtung«, erinnerte ihn Sano. »Ich gebe Euch die Gelegenheit, Eure Version der Geschichte zu erzählen und dadurch weiterer Schande und einer möglichen Todesstrafe zu entgehen.«
Kushida seufzte resigniert, stellte den Becher ab und stützte sich nach hinten auf die Ellbogen. »Also gut«, begann er. »Als Konkubine Harume in den Palast kam, fühlte ich mich gleich zu ihr hingezogen. Ja, ja, ich kenne die Vorschriften, was das Verhalten der Wachen gegenüber den Konkubinen des Shôguns betrifft, und bis dahin habe ich mich immer daran gehalten.«
Sano rief sich in Erinnerung, was Kushidas Vorgesetzter auf die Frage nach dem Charakter des Leutnants geantwortet hatte: »Er ist ein Mann von ruhiger und ernster Natur. Er scheint keine Freunde zu haben, und ein Leben außerhalb der Palastmauern existiert für ihn anscheinend nicht. Außer für die Kampfkunst scheint er sich für kaum etwas zu interessieren; daher ist er bei den anderen Wächtern nicht sonderlich beliebt. Was die Konkubinen betrifft hat Kushida sich bisher so tadellos benommen, dass mir und den Kameraden Zweifel gekommen sind, ob er sich überhaupt für Frauen interessiert. Er hat seinen Posten vom Vater übernommen, als dieser in den Ruhestand ging. Damals war Kushida 25. Uns war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, einen so jungen Burschen im Inneren Schloss zu beschäftigen; für gewöhnlich nehmen wir Männer, die ihre besten Jahre hinter sich haben. Mittlerweile ist Kushida seit zehn Jahren auf diesem Posten – länger als die meisten anderen Wächter, die früher oder später versetzt wurden, weil sie ein zu freundschaftliches Verhältnis zu einer der Frauen entwickelt haben …«
Kushidas Stimme riss Sano aus seinen Gedanken. »Bevor Harume kam, hatte ich mich stets gegen die Verlockungen durch die Frauen wehren können. Aber Harume war wunderschön, und sie besaß ein so lebendiges, bezauberndes Wesen …« Kushidas Augen leuchteten in einem sanften Licht, als er den Blick in die Vergangenheit richtete. Mehr zu sich selbst als zu Sano sagte er: »Zuerst habe ich sie einfach nur angeschaut. Ich habe gelauscht, wenn sie mit den anderen Frauen
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