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Das Geheimnis

Das Geheimnis

Titel: Das Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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bewahren sollte, drückte mit beiden Händen darauf und tastete mit den Fingern.
    »Was ist es?«, fragte Sano.
    »Eine Schwellung. Sie kann sowohl vom Gift herrühren als auch eine andere Ursache haben.« Schließlich richtete Dr. Ito sich wieder auf und wandte sich mit ernster Miene Sano zu. »In meiner Laufbahn als Arzt habe ich sehr viele weibliche Patienten behandelt. Wenn ich mich nicht sehr irre, befand sich Konkubine Harume in einem frühen Stadium der Schwangerschaft.«
    Ein schweres Pendel blanken Entsetzens schien von innen gegen Sanos Brustkorb zu schlagen wie der Klöppel einer großen Tempelglocke. Eine Schwangerschaft Harumes würde unabsehbare Folgen nach sich ziehen – sowohl für den Mordfall als auch für Sano selbst.
    In Dr. Itos Blick spiegelten sich Verständnis und Sorge, doch er war kein Mann, der vor der Wahrheit zurückschreckte. »Gewissheit kann uns allerdings nur eine Leichenöffnung verschaffen«, sagte er.
    Sano holte tief Luft und hielt den Atem an, als wolle er die Furcht, die in ihm brannte, in seinem Innern verschließen. Eine Leichenöffnung war ein Unterfangen, das sich in hohem Maße auf fremdländische Wissenschaften stützte – und die waren in Japan streng verboten. Niemand wusste das besser als Dr. Ito, denn die Beschäftigung mit der Wissenschaft der Europäer hatte ihm vor vielen Jahren die Strafe eingebracht, lebenslang Dienst in der Leichenhalle von Edo zu tun. Auch Sano hatte bei früheren Fällen um der Wahrheit willen an Leichenöffnungen teilgenommen und damit die Verbannung, ja die Todesstrafe riskiert. Bislang war dem bakufa seine Beteiligung an solch verbotenen Praktiken jedoch verborgen geblieben – sogar die ab gebrühtesten Spitzel mieden die Leichenhalle von Edo –; doch Sano befürchtete, dass sein Glück allmählich zur Neige ging. Der Gedanke, Dr. Itos Verdacht, dass Harume schwanger sei, könne sich bewahrheiten, erfüllte ihn ebenso sehr mit Entsetzen wie die Gefahren, die das nach sich zog. Doch falls Dr. Ito Recht hatte, ergaben sich eine Vielzahl möglicher Motive für Harumes Ermordung, und wenn Sano ihnen nicht nachging, würde er den Täter wohl niemals ergreifen. Außerdem war er der Wahrheit noch nie aus dem Weg gegangen. Resigniert stieß er den Atem aus.
    »Also gut«, sagte er zu Dr. Ito. »Überprüft es bitte.«
    Ito nickte Mura zu, der daraufhin ein langes dünnes Messer aus einer Vitrine holte. Dr. Ito nahm das Baumwolltuch von Harumes Unterleib. Mit dem Zeigefinger zog er dicht über der Haut der Toten Linien in der Luft. »Schneide erst hier, dann hier, und dann hier, in dieser Reihenfolge«, wies er Mura an. Behutsam drückte Mura die scharfe Klinge in Harumes Leib, machte zuerst einen langen, quer verlaufenden Schnitt unter dem Nabel, gefolgt von zwei kürzeren Schnitten, die er an beiden Enden des ersten Schnittes ansetzte und die im Winkel von 90 Grad nach unten verliefen, in Richtung der Leistengegend. Dann schlug Mura vorsichtig den Fleischlappen nach unten, sodass die rosafarbenen Darmwindungen zum Vorschein kamen.
    »Entnimm die Därme«, sagte Dr. Ito.
    Gestank breitete sich aus, als Mura die Anweisung befolgte und die entfernten Organe auf ein Tablett legte. Sano überkam Übelkeit; sein Magen verkrampfte sich, als die unreine Aura spiritueller Verschmutzung ihn umhüllte wie ein grässlicher Nebel. Egal wie viele Obduktionen er schon erlebt hatte, jedes Mal fühlte er sich an Körper und Geist besudelt. Schließlich sah er in der Bauchhöhle der toten Harume ein fleischiges, birnenförmiges Gebilde von der Größe einer Männerfaust; von diesem Gebilde gingen zwei dünne, gekrümmte Röhren aus, deren Enden zu faserigen Wucherungen aufgefächert waren, welche an Seeanemonen erinnerten und in zwei traubenähnlichen Säcken endeten.
    »Die Organe des Lebens«, erklärte Dr. Ito.
    Scham mischte sich in Sanos Unbehagen. Welches Recht hatte er, ein Mann, ein Fremder, die intimsten Körperteile einer toten Frau zu betrachten? Schließlich jedoch war die Neugier stärker, und Sano beobachtete, wie Mura einen Einschnitt in den Uterus vornahm. Im Innern befand sich schaumiges Gewebe, und darin wiederum ein winziges ungeborenes Kind, das wie ein nackter rosa Salamander aussah und nicht größer war als Sanos Finger.
    »Also hattet Ihr Recht«, sagte Sano. »Sie war schwanger.«
    Der Kopf des Kindes war so groß, dass der Körper im Vergleich dazu beinahe zwergenhaft erschien. Die Augen waren schwarze Punkte im noch unfertigen

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