Das geheimnisvolle Gesicht
unauffällig dorthin, wo Perry jene Colette längst erspäht hatte.
Sie erhob sich, als er auf sie zutrat. Sie war höchstens achtzehn Jahre alt, klein, zierlich, mit tiefschwarzen Haaren und Augen. Sie blickte den Detektiv forschend an und hielt ihm dann die Hand hin: „Guten Abend, ich bin Colette Salier!“
„Ich seh ein bißchen wild aus, was?“ lächelte Perry sie an. „Aber bitte bedenken Sie, daß ich vor vier Minuten noch in der Badewanne gesessen habe!“
Sie legte sich erschrocken die Hand vor den Mund. „Keine Sorge“, beschwichtigte Perry, „für Sie wäre ich jetzt sogar durch den Rhein geschwommen.“ Er deutete auf zwei Sessel: „Wollen wir uns hier unterhalten? Oder möchten Sie lieber ins Restaurant gehen?“
„Ich bleibe gern hier.“ Sie sprach mit starkem französischem Akzent.
Ein Kellner kam mit einem Tablett, auf dem zwei Sektkelche standen und in denen es wunderbar perlte. Colette errötete, als ihr Perry Clifton eines der Gläser in die Hand gab und mit dem zweiten bei ihr anstieß. „Dafür, daß Sie gekommen sind!“
Sie nippte und stellte das Glas vorsichtig auf das kleine Tischchen. „Ich bin erst vor einer Stunde aus Toulon zurückgekommen. Und da hat mir die Chefin gleich gesagt, daß Sie dagewesen seien und daß es um Madame Bloyer ginge... und um eine Erbschaftsangelegenheit. Ich würde Madame sehr gern behilflich sein. Sie war immer sehr freundlich und sehr großzügig zu mir!“
„Und sie kam ebenfalls aus Frankreich!“
„Ja, Monsieur!“
Perry Clifton wußte, was in dieser Minute auf dem Spiel stand.
Als er das erste Foto aus dem Umschlag zog, war es genau
22 Uhr 30...
(Und genau in diesem Augenblick hielt ein lindgrüner FIAT vor dem Haus Rheingasse 77.)
Es war die große Porträtaufnahme von Claire Burton. Er hielt sie Colette hin. „Ist sie das?“
„Ja, das ist sie!“ kam es sofort zurück. „Das ist Madame Bloyer.“ Er reichte ihr ein Foto nach dem anderen. Und jedesmal stieß Colette mit einem fast glücklichen Glucksen die gleichen Worte aus: „Das ist Madame Bloyer!“
Cliftons Stimme war sehr ernst, und Colette blickte ihn überrascht und ein wenig beunruhigt an, als er meinte: „Fräulein Colette, überlegen Sie genau, und sehen Sie sich alle Fotos noch einmal aufmerksam an. Besonders dieses hier“, er zeigte auf die Porträtaufnahme. „Ist das wirklich Madame Bloyer?“
„Ja, Monsieur... Hier, auf dem großen Bild (Porträt) sehen Sie es ganz genau.“ Sie tippte mit der winzigen Spitze ihres Zeigefingers auf einen ebenso winzigen Fleck neben Claire Burtons linkem Auge. „Diesen kleinen Leberfleck hat sie immer weggeschminkt. Und wenn sie es mal vergessen hatte, dann hat sie immer mächtig mit sich geschimpft!“
Perry Clifton ließ sich nichts anmerken...
Das, was er geahnt hatte... und nicht nur er allein, war Wirklichkeit geworden: Es gab keine Madame Bloyer, es gab nur eine Claire Burton, die sich jetzt Bloyer nannte! Und hinter der, außer ihm, noch mindestens vier andere Männer herjagten.
Es gab für Perry Clifton keinen Zweifel daran, daß Claire Burton in allergrößter Gefahr schwebte!
Colette Salier schien doch etwas von dem gespürt zu haben, was in ihrem Gegenüber vorging.
„Ist etwas, Monsieur Clifton? Habe ich was Falsches gesagt?“
„Sie wollen Madame Bloyer doch helfen...?“
Sie nickte lebhaft. „Ja!“
„Das könnten Sie nur, wenn Sie wüßten, wohin sie von hier aus gereist ist!“
Sie zuckte hilflos mit den Schultern und sagte leise: „Das weiß ich nicht... Davon hat sie nie gesprochen...“
„Ich muß Ihnen etwas sagen, Colette. Es geht nicht allein nur um die Erbschaft. Es geht auch um einen großen — Versicherungsschwindel . “
„Versicherungsschwindel?“ Colette schluckte.
„Ja, und noch etwas: Madame ist in allergrößter Gefahr, wenn ich sie nicht recht bald finde!“
Colette hatte sich zurückgelehnt und starrte Clifton aus großen Augen erschreckt an. „Gefahr?“ flüsterte sie...
„Ja…“
Sie schüttelte traurig den Kopf. „Immer, wenn ich sie gefragt habe, wohin sie von Basel aus reise, hat sie nur gelacht und gesagt: ,Dorthin, Colette, wo es schön und ungefährlich ist... Wo es weder Blitze, Donner noch Erdbeben gibt’... Das hat sie gesagt, Monsieur!“ Und naiv fragte sie: „Wo gibt es keine Blitze, keinen Donner und kein Erdbeben?“
„Ich glaube, daß das nur symbolisch gemeint war, Colette.“ Sie lächelte ein trauriges Lächeln. Und ebenso traurig
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