Das geheimnisvolle Gesicht
sagte sie: „Arme Madame Bloyer...“
„Hat sie Ihnen mal erzählt, aus welcher französischen Stadt sie stammte?“
„Sie sagte nur, sie hasse Bordeaux und liebe Paris.“
„Erwähnte sie ihren Bruder?“
Colette schüttelte den Kopf.
„Wie hieß Madame Bloyer mit Vornamen?“
„Claire!“
„Wie war sie? Fröhlich, bedrückt, ausgelassen, ängstlich? Colette überlegte lange, bevor sie antwortete: „Sie war alles... Einmal fröhlich und beschwingt, dann sang sie. Dann wieder traurig... Am traurigsten war sie, als das mit ihrer goldenen Uhr passierte... Da weinte sie stundenlang.“
„Was war mit der goldenen Uhr?“
„Ihr Mann hatte sie ihr aus Südafrika mitgebracht... Ihr Mann ist ja mit einem Flugzeug abgestürzt, wissen Sie das?“
Perry nickte.
„Ja, die Uhr... Es war eine Armbanduhr. Sie war runtergefallen, und Madame war draufgetreten. Dabei ist der Verschluß kaputtgegangen... Es war wohl ein sehr komplizierter Verschluß. Sie fragte mich nach einem Uhrmacher, der so was reparieren könnte. Das war einen Tag bevor...“ Sie hielt mitten im Satz inne, packte Clifton am Arm und schluckte. Hektische Flecken überzogen ihre Wangen, während die schwarzen Augen zu funkeln begannen.
„Das war ein Tag bevor was, Colette?“
„Ein Tag, bevor sie abreiste. Und sie wollte den Uhrmacher bitten, ihr die Uhr nachzuschicken. Hören Sie, Monsieur... Wenn der Uhrmacher ihr die Uhr nachschicken soll...
„... dann muß er auch wissen, wohin!“ vollendete Perry ihren Satz. „Das wollten Sie doch sagen?“ Sie nickte. Glücklich und lebhaft. Und sie nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Glas.
„Leider wissen wir nicht, zu welchem Uhrmacher sie die Uhr gebracht hat“, murmelte Clifton und war entschlossen, sich anschließend vom Portier das Branchenbuch geben zu lassen. Hoffentlich hatte der so was... Wie viele Uhrmacher mochte es wohl in Basel geben? Zehn? Zwanzig? Vielleicht sogar fünfzig? Schließlich war er im Lande der Uhren...
„Ich weiß, zu welchem Uhrmacher Madame Bloyer ihre Uhr gebracht hat.“
Perry Clifton sah sie an. „Sie wissen es??“
„Ja. Zu Ehrmann in der Steinenvorstadt.“
„Zu — Ehrmann in der Steinenvorstadt!“ wiederholte Perry Clifton. Und noch einmal: „Zu Ehrmann in der Steinenvorstadt...“Jetzt nahm auch er sein Glas zur Hand, und komischerweise fiel ihm in diesem Augenblick das ein, was Edward Hamilton zu ihm gesagt hatte, und er wandelte es etwas ab: „Sollte der Rhein plötzlich wieder flußaufwärts fließen, Colette, werde ich dafür sorgen, daß Ihr Gedächtnis in Gold gefaßt wird
22 Uhr 55.
Perry Clifton wollte es im Höchstfall fünfmal klingeln lassen. Doch schon nach dem dritten Rufzeichen wurde der Hörer abgenommen.
„Gaitner!“ Es klang nicht danach, als ob er schon geschlafen hätte.
„Ich hoffe, daß ich Ihnen nicht zur Last falle, Herr Gaitner.“
„Das tun Sie absolut nicht!“ gab der Exkommissar zurück und konstatierte ahnungsvoll: „Es bedarf in diesem Fall weder meines sechsten Sinns noch des Blickes auf die Uhr. Allein das Hoch in Ihrer Stimme verrät mir, daß sich etwas ereignet hat.“
„Stimmt! Es hat sich etwas ereignet!“ Perry Clifton staunte einmal mehr. „Ich hatte eben Besuch von einer jungen Dame. Sie heißt Colette Salier.“
Gaitner wußte sofort Bescheid. „Das Zimmermädchen aus dem Bristol!“
Ja!“
„Und — besitzt sie Madames Nachsendeadresse?“
„Nein, das nicht. Aber eine Information, die mindestens ebensoviel Wert hat: Madame Bloyer besaß eine wertvolle Uhr, die sie einen Tag vor ihre Abreise zu einem Uhrmacher geben mußte. Sie wollte den Uhrmacher bitten, ihr die Uhr nachzuschicken. Also...?“
„Also muß der Uhrmacher ihr neues Reiseziel kennen!“ vollendete Gaitner. „Wissen Sie auch, wie der Uhrmacher heißt?“
„Ehrmann. Er soll ein Geschäft in der Steinenvorstadt haben.“
„Ganz in Ihrer Nähe.“
„Ob wir diesem Herrn Ehrmann morgen am heiligen Sonntag einen Besuch abstatten können?“
Gaitner zögerte keinen Augenblick mit der Antwort: „Natürlich können wir! Ich hole Sie um 10 Uhr ab!“
„Ist das nicht zu früh? Vielleicht schläft er sonntags länger“, gab Perry Clifton zu bedenken.
„Na schön, dann halb elf. Haben Sie diesem Fräulein Colette auch die Fotos gezeigt?“
„Ja. Es gibt keinen Zweifel mehr daran, daß Madame Bloyer, das ,unheimliche Gesicht’, identisch ist mit Claire Burton, der angeblich tödlich Verunglückten.“ Und nach einer
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