Das Geiseldrama
Diese Entschlußfreudigkeit war nach seinem Geschmack.
„Selbstverständlich komme ich
mit“, maulte Klößchen. „Einer muß ja die Verantwortung tragen. Und wer könnte
das außer mir? Mittagessen ade! Schon wieder schwänzen wir. Au Backe, Tarzan!
Bald fliegen wir raus aus dieser Penne. Dann stehen wir da ohne Abschluß. Ich
kann ja gleich als Direktor in Vaters Schokoladenfabrik anfangen. Aber was wird
aus dir? Nicht mal Terrorist kannst du werden. Mit denen hast du’s jetzt schon
verdorben.“
Seine Freunde lachten. Tarzan
sagte, er hätte null Bock auf eine Laufbahn als Staatsfeind. Das Gegenteil,
nämlich Staatsfreundschaft, zöge ihn mehr an.
Dann klingelte es. Die
Geschichtsstunde begann.
Tarzan wußte, daß die Zeit am
schnellsten vergeht, wenn man aufpaßt wie ein Luchs — statt dauernd zur Uhr zu
schielen und die Minuten zu zählen.
Ihm entging kein Wort von dem,
was in der zweiten, dritten und vierten Stunde gesagt wurde.
*
Görrs Garten badete im Licht
der Vormittagssonne. Bienen summten. Schmetterlinge schwebten umher. Nachbars
Katze sprang nach ihnen, fing aber keinen. Görr polierte seine Fingernägel und
blickte hinaus.
Er saß in seinem Büro, einem
rückseitig gelegenen Raum. Hier sah es aus, als müßte Arbeit für ihn erst noch
erfunden werden.
Eben hatte er einen Kunden
verabschiedet, einen Wohnungssuchenden, der schwer unter Druck stand. Ende des
Monats mußte er aus seiner bisherigen Bleibe ausziehen, ohne Aussicht darauf,
was Gleichwertiges zu finden.
Görr hatte ihm einen seiner
Ladenhüter angedreht, eine überteuerte Wohnung an verkehrsreicher Straße. Für
die Vermittlung kassierte er drei Monatsmieten. Arbeit war ihm nicht
entstanden. Nur Verdienst.
So muß man’s drehen, dachte er.
Wer arbeitet, hat keine Zeit, um Geld zu verdienen.
Das war sein Motto, und so
handelte er.
Den Scheck des Kunden legte er
in den Schreibtisch. Dann ging er durch die Diele in sein schickes Kaminzimmer.
An der Hausbar goß er sich ein Glas gekühlten Tomatensaft ein. Alkohol trank er
um diese Zeit noch nicht. Gähnend stand er einen Moment herum. Sollte er Schluß
machen für heute und ins Bistro zum Essen gehen? Oder?
Er hatte den Gedanken verdrängt.
Aber jetzt krallte er sich wieder in sein Bewußtsein.
Draußen in der Hütte lag ein
Verletzter. Nicht irgendeiner, sondern Arved von Lotzka, der Terrorist, der
Anführer der Brigade Staatsfeind, wie man auf jedem Steckbrief lesen konnte.
Es war ein Schock gewesen für
Görr, als er im Morgengrauen die Hütte überprüft hatte. Der also war Dikals
Komplice! Nicht irgendein Dieb, sondern der meistgesuchte Terrorist. Logisch,
daß Dikal den nicht ins Krankenhaus bringen konnte, den noch weniger als einen
x-beliebigen Dieb. Den Staatsfeind kannte jeder. Ob er noch lebte?
Görr hatte den Bewußtlosen
nicht angerührt, sondern die Hütte abgeschlossen und sich schleunigst aus dem
Staub gemacht.
Sollte er die Polizei
verständigen?
Ein noch unfertiger Gedanke
hielt ihn davon ab.
Zeigen wollte er sich nicht.
Sonst hätte er sagen müssen, wie er an den Schlüssel der Hütte kam. Und
überhaupt: In sowas wollte er sich nicht hineinziehen lassen. Andererseits war
dieser Lotzka was wert. Ihn mit einem anonymen (namenlosen) Anruf verschenken
— das widerstrebte Görrs Geldgier. Verkaufen! Das ja! Aber ihm fiel kein Dreh
ein. Trotzdem drängte die Zeit. Er wußte nicht, welches Ausmaß Dikals
Verletzungen hatten. Sobald er konnte, würde er die andern Terroristen
verständigen — falls er das nicht längst, nämlich heute nacht noch, getan
hatte. Doch das hielt Görr für unwahrscheinlich. Hätte die Brigade Staatsfeind
ihren Anführer nicht sofort abgeholt? Statt ihn hilflos in der Jagdhütte zu
lassen.
Ich, dachte Görr, bin im Moment
der einzige, der das Versteck kennt. Dikal kennt gar nichts. Der balanciert auf
der Schwelle des Todes. Und mir ist es wurscht, nach welcher Seite er kippt.
Er trat zur Schrankwand, wo er
alles hatte, was technisch vom Neuesten war: TV, Stereo-Anlage, Video-Gerät,
Radio, Schmalfilm-Projektor, Dia-Projektor...
Er schaltete das Radio ein. Zur
vollen Stunde gab’s Nachrichten. Damit hielt er sich auf dem Laufenden. In den
Zeitungen las er nur die Immobilien-Anzeigen. Bücher besaß er nicht.
Ein Sprecher verlas die
Nachrichten.
Den üblichen politischen Lügen
und Phrasen lieh Görr nur ein Ohr. Richtig hinhören würde er erst beim
Wetterbericht.
Aber dann hörte er eine
Meldung, die ihm — und
Weitere Kostenlose Bücher