Das Geisterhaus
aufgepflanzten Fahnen und Bilder
des konservativen Kandidaten hereinzuholen. Unterdessen
strömten aus den Stadtrandsiedlungen und den Arbeitervierteln
ganze Familien, Eltern, Kinder, Großeltern, in ihrem
Sonntagsstaat jubelnd in die Innenstadt. Sie trugen Kofferradios,
um die letzten Ergebnisse zu hören. Im Barrio Alto schlugen ein
paar von Idealismus entflammte Studenten ihren mit
Leichenbittermienen um das Fernsehen versammelten Familien
ein Schnippchen und liefen ebenfalls auf die Straße. Aus den
Industriebezirken kamen die Arbeiter in geordneten Kolonnen,
die Fäuste hochgereckt und Wahlkampflieder singend. In der
Innenstadt vereinigten sie sich und schrien wie ein Mann, daß
ein geeintes Volk niemals besiegt werde. Sie zogen weiße
Taschentücher hervor und warteten. Um Mitternacht wußte man,
daß die Linke gewonnen hatte. Im Handumdrehen vergrößerten
sich die verstreuten Gruppen, schwollen an, dehnten sich aus,
die Straßen füllten sich mit einer euphorischen Menge, die
hüpfte und schrie und sich lachend in die Arme fiel. Fackeln
wurden angezündet, und aus dem Durcheinander der Summen
und dem Tanz auf der Straße wurde ein disziplinierter, jubelnder
Zug, der sich in Richtung auf die feinen Alleen der Bourgeoisie
in Bewegung setzte. Und dann sah man das unerhörte
Schauspiel: Menschen aus dem Volk, Männer in ihren
Fabrikschuhen, Frauen mit ihren Kindern auf dem Arm,
Studenten in Hemdsärmeln, die völlig ruhig durch jene
distinguierte und distanzierte Zone der Stadt zogen, in die sie
sich selten hineinwagten und in der sie Fremde waren. Ihre
Lieder, ihre Schritte und der Schein ihrer Fackeln drangen ins
Innere der stillen, fest verschlossenen Villen, in denen nun
diejenigen zitterten, die zuletzt selber an ihre Terrorkampagne
glaubten und überzeugt waren, daß der Pöbel sie in Stücke
reißen oder, im besten der Fälle, enteignen und nach Sibirien
schicken werde. Doch die laut singende Menge schlug keine Tür
ein und zertrampelte keinen der untadelig gepflegten Gärten.
Fröhlich zogen sie vorbei, ohne die auf der Straße geparkten
luxuriösen Autos anzutasten, gingen in großen Schleifen über
die Plätze und Anlagen, die sie nie betreten hatten, blieben
staunend vor den wie zu Weihnachten strahlend erleuchteten
Auslagen des Geschäftszentrums stehen, die vollgestopft waren
mit Dingen, von denen sie nicht einmal wußten, wozu sie
benutzt wurden, und setzten friedlich ihren Weg fort. Als die
Kolonne am Hause Trueba vorüberzog, lief Alba hinaus und
mischte sich, aus vollem Halse singend, unter die anderen. Die
ganze Nacht zog das freudig erregte Volk durch die Stadt. In
den herrschaftlichen Häusern blieben die Champagnerflaschen
verkorkt, welkten die Langusten auf den Silbertabletts, und auf
den Torten saßen Fliegen.
Im Morgengrauen entdeckte Alba in der Menge, die bereits
auseinanderzugehen begann, die unverwechselbare Gestalt
Miguels, der eine Fahne in den Händen hatte und schrie. Sie
bahnte sich einen Weg durchs Gewühl, vergeblich seinen
Namen rufend, den er im Freudentrubel nicht hören konnte. Als
sie vor ihm stand und Miguel sie sah, gab er die Fahne einem,
der neben ihm stand, umschlang Alba mit seinen Armen und
hob sie hoch. Beide waren am Ende ihrer Kräfte und weinten
vor Freude, als sie sich küßten.
»Hab’ ich’s nicht gesagt, daß wir im guten gewinnen werden,
Miguel«, lachte Alba. »Wir haben gewonnen, aber jetzt geht es
darum, den Sieg zu verteidigen«, antwortete er.
Am nächsten Tag rannten dieselben Leute, die zitternd vor
Angst die Nacht in ihren Häusern verbracht hatten, wie die
Wahnsinnigen auf die Straße, fielen über die Banken her und
wollten ihre Guthaben ausgezahlt bekommen. Wer Wertsachen
im Safe hatte, versteckte sie lieber unter der Matratze oder
schickte sie ins Ausland. Binnen vierundzwanzig Stunden sank
der Wert an Grund und Boden um mehr als die Hälfte, und
durch den Wahn, nur ja das Land zu verlassen, ehe die Sowjets
kamen und an der Grenze Stacheldrahtzäune errichteten, waren
alle Flüge ausgebucht. Das Volk, das siegreich durch die Stadt
gezogen wäre, sah die Bourgeoisie vor den Banken Schlange
stehen und sich balgen und lachte aus vollem Hals. Innerhalb
weniger Stunden spaltete sich das Land in zwei unversöhnliche
Teile. Die Trennungslinie verlief quer durch jede Familie.
Senator Trueba verbrachte die Nacht im Haus seiner Partei,
festgehalten von seinen Leuten, die überzeugt waren, daß ihn
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