Das Geisterhaus
erstaunt.
»Ja, vor langer Zeit«, sagte Jaime.
Er dachte, daß es zwecklos war, von der Vergangenheit zu
sprechen, und daß Miguel und Alba zu jung waren, um dieses
Gefühl eines unwiederbringlichen Verlustes, das ihn in diesem
Augenblick erfüllte, verstehen zu können. Mit einem Mal war
das Bild von der kleinen Zigeunerin, das er in all den Jahren in
seinem Herzen getragen hatte, die einzige Liebe in seinem
einsamen Leben, getilgt. Er half Miguel, die Frau auf das Sofa
zu legen, das sie auch zum Schlafen benützte, und schob die
Kissen zurecht. Schwach abwehrend und unzusammenhängende
Worte stammelnd, hielt sich Amanda mit beiden Händen den
Morgenmantel zu. Sie wurde von einem krampfartigen Zittern
geschüttelt und keuchte wie ein erschöpfter Hund.
Alba
beobachtete sie entsetzt, und erst, als Amanda ruhig und mit
geschlossenen Augen dalag, erkannte sie in ihr die lächelnde
Frau auf dem Bild, das Miguel immer in seiner Brieftasche trug.
Jaime sprach auf sie ein mit einer Stimme, die Alba nicht an ihm
kannte, und nach und nach gelang es ihm,
Amanda zu
beruhigen. Er streichelte sie mit den zärtlichen, väterlichen
Gesten, die er manchmal bei Tieren hatte, bis sich die Kranke
entspannte und es zuließ, daß er die Ärmel ihres alten
chinesischen Morgenmantels hochschob. Ihre bis auf die
Knochen abgemagerten Arme kamen zum Vorschein, und Alba
sah die tausend winzigen Narben, blauen Flecke und Einstiche,
von denen einige infiziert waren und eiterten. Dann deckte er die
Beine auf, und auch ihre Schenkel waren zerstochen. Jaime, der
sie traurig betrachtete, begriff in diesem Augenblick die
Verlassenheit, die Jahre des Elends, der immer enttäuschten
Liebe, den ganzen furchtbaren Weg, den diese Frau vermutlich
durchlaufen hatte, ehe sie in diesem Stadium der Verzweiflung
angekommen war. Er rief sie sich ins Gedächtnis, wie sie in
ihrer Jugend gewesen war, als ihr flatterndes Haar, das Klirren
ihrer Armreife, ihr helles Lachen und die Naivität, mit der sie
die verrücktesten Ideen aufgriff und Illusionen nachjagte, ihn
berückt hatten. Er verfluchte sich dafür, daß er sie hatte gehen
lassen und diese ganze Zeit für beide verloren war. »Sie muß ins
Krankenhaus gebracht werden. Nur eine Entziehungskur kann
ihr noch helfen«, sagte er. »Sie wird es schwer haben«, fügte er
hinzu.
Zwölftes Kapitel
Die Verschwörung
Wie der Kandidat es vorhergesagt hatte, gewannen die mit
den übrigen Linksparteien verbündeten Sozialisten die
Präsidentschaftswahlen. Die Wahl, an einem schönen Tag im
September, verlief ohne Zwischenfälle. Die gleichen wie immer,
seit undenklichen Zeiten an die Macht gewöhnt, obgleich sie
ihre Kräfte in den letzten Jahren hatten schwinden sehen, hatten
sich schon Wochen im voraus auf die Siegesfeier vorbereitet. In
den Spirituosengeschäften gingen die Vorräte zur Neige, auf den
Märkten waren frische Schalentie re ausverkauft, und die
Konditoreien arbeiteten in Doppelschichten, um die Nachfrage
an Torten und Kuchen zu befriedigen. Im Barrio Alto
beunruhigte sich niemand über die Ergebnisse von
Teilauszählungen in den Provinzen, bei denen die Linken einen
Vorsprung hatten, da jedermann wußte, daß die Stimmen der
Hauptstadt die entscheidenden waren. Senator Trueba verfolgte
im Haus seiner Partei die Wahlvorgänge ruhig und in bester
Laune und lachte schallend, wenn die unverkennbaren
Fortschritte des Kandidaten der Opposition einen seiner Männer
nervös machten. In Vorwegnahme des Triumphs hatte er sich,
seine strenge Trauer durchbrechend, eine rote Rose ins
Knopfloch gesteckt. Er wurde vom Fernsehen interviewt, und
alle konnten ihn hören: »Wir werden wie immer siegen«, sagte
er und hob sein Glas zu einem Toast auf die »Verteidiger der
Demokratie«.
Im großen Eckhaus saßen Blanca, Alba und die
Hausangestellten bei Tee und belegten Broten vor dem
Fernsehen und notierten sich die Ergebnisse, um den Endspurt
genau verfolgen zu können, als sie den Großvater, älter und
starrsinniger denn je, auf dem Bildschirm sahen.
»Der Schlag wird ihn treffen«, sagte Alba. »Denn diesmal
gewinnen die andern.«
Bald war allen klar, daß nur noch ein Wunder das im Verlauf
des Tages immer deutlicher sich abzeichnende Ergebnis würde
ändern können. In den hochherrschaftlichen weißen, blauen und
gelben Residenzen im Barrio Alto begann man die Jalousien
herunterzulassen, die Türen zu verrammeln und eilig die schon
im voraus auf den Balkonen
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