Das Geisterhaus
selbstgedrehten Pillen,
Vitaminsäften und dem Bepinseln der Kehle mit Boraxhonig zu
heilen, erzielte aber kein sichtbares Ergebnis. Er sah ein, daß
seine Medikamente wirkungslos waren und seine Gegenwart das
Kind in Angstzustände versetzte. Sooft sie ihn sah, begann Clara
zu schreien und flüchtete sich geduckt wie ein gehetztes Tier in
den hintersten Winkel, so daß er die Behandlung einstellte und
Severo und Nivea empfahl, sie zu einem Rumänen namens
Rostipov zu bringen, der damals Aufsehen erregte. Rostipov
verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit Taschenspielertricks
in Varietés und hatte die unglaubliche Tat vollbracht, vom
höchsten Punkt der Kathedrale bis zur gegenüberliegenden
Kuppel der Galicischen Bruderschaft einen Draht zu spannen
und auf ihm in luftiger Höhe, mit einer Stange als einzigem
Halt, den Platz zu überqueren. Ungeachtet dieser frivolen Seite
hatte Rostipov in wissenschaftlichen Kreisen eine heftige
Diskussion ausgelöst, weil er in seiner freien Zeit einige Fälle
von Hysterie mit Magnetstäbchen und Hypnosesitzungen geheilt
hatte. Nivea und Severo gingen mit Clara in die Praxis, die der
Rumäne in seinem Hotel improvisiert hatte, Rostipov
untersuchte das Kind eingehend und erklärte, daß er für diesen
Fall nicht zuständig sei: die Kleine spreche nicht, weil sie keine
Lust dazu habe, nicht, weil sie nicht könne. Da aber die Eltern
insistierten, stellte er aus violett gefärbtem Zucker ein paar
Pillen her, die er als ein sibirisches Heilmittel gegen
Taubstummheit ausgab. Die Suggestion funktionierte in diesem
Fall nicht. Das zweite Glas Pillen fraß
Barrabas in einem
unbewachten Moment, ohne irgendwelche Reaktionen zu
zeigen. Severo und Nivea versuchten Clara mit bewährten
Hausmitteln zum Sprechen zu bringen, mit Drohungen und
Bitten, sogar mit Essensentzug, mal sehen, ob der Hunger sie
dazu bringt, den Mund aufzumachen, aber auch das half nicht.
Die Nana kam auf die Idee, das Kind würde vielleicht durch
einen tüchtigen Schrecken seine Sprache wiederfinden. Neun
Jahre lang ersann sie die ausgefallensten Mittel, Clara Angst
einzujagen, erreichte damit aber nur, sie gegen Überraschungen
und Schreckschüsse immun zu machen. Bald fürchtete sich
Clara vor nichts mehr, und weder die Erscheinung fahler,
unterernährter Monstren in ihrem Schlafzimmer noch das
Klopfen von Vampiren und Dämone n an ihrem Fenster konnten
sie mehr erschüttern. Die Nana verkleidete sich als Seeräuber
ohne Kopf, als Henker aus dem
Tower von London, als
Werwolf und als gehörnter Teufel, je nach ihren
Augenblickseinfällen und den Anregungen aus den Heftchen mit
Horrorgeschichten, die sie zu diesem Zweck kaufte, obwohl sie
sie nicht lesen konnte: sie ließ sich von den Abbildungen
inspirieren. Sie gewöhnte sich an, ganz still durch die Gänge zu
schleichen und das Kind in der Dunkelheit zu überfallen, sie
heulte hinter den Türen und versteckte lebende Tiere in ihrem
Bett, doch nichts von alledem konnte dem Kind auch nur ein
Wort entlocken. Manchmal riß Clara die Geduld, sie warf sich
auf den Boden, strampelte und schrie, ohne jedoch irgendeinen
Laut in einer bekannten Sprache zu artikulieren, oder sie schrieb
auf die Schiefertafel, die sie immer bei sich trug, wüste
Schimpfwörter gegen die Nana, die dann in die Küche ging und
über soviel Unverständnis weinte.
»Ich tu es doch nur zu deinem Besten, mein Engelchen«,
schluchzte die Nana, in ein blutbeflecktes Leintuch gehüllt, das
Gesicht mit angekohltem Kork geschwärzt.
Nivea untersagte ihr, ihre Tochter weiterhin zu erschrecken.
Sie begriff, daß Erregungszustände ihre mentalen Kräfte
steigerten und Verwirrung stifteten unter den Geistern, die um
das Kind waren. Außerdem brachte der Aufmarsch schauriger
Gestalten Barrabas aus seinem seelischen Gleichgewicht, dessen
Geruchssinn nie besonders ausgeprägt war und der die Nana
unter ihren wechselnden Verkleidungen nicht wiedererkannte.
Der Hund begann im Sitzen zu pinkeln, so daß jedesmal eine
riesige Lache unter ihm entstand, und knirschte häufig mit den
Zähnen. Aber die Nana nutzte jede Unachtsamkeit der Mutter zu
immer neuen Versuchen, Claras Sprachlosigkeit mit den
gleichen Mitteln zu heilen wie den Schluckauf.
Clara wurde aus der Nonnenschule genommen, in die alle
Schwestern del Valle gegangen waren. Man gab ihr Hauslehrer.
Severo ließ eine Erzieherin aus England kommen, Miß Agatha,
die groß und überall bernsteinfarben war und
Weitere Kostenlose Bücher