Das Geisterhaus
große
Maurerhände hatte, aber sie konnte das Klima, das scharfe Essen
und das selbsttätig über den Eßtisch wandernde Salzfaß nicht
ertragen und mußte zurück nach Liverpool. Der zweiten, einer
Schweizerin, erging es nicht besser, und die Französin, die
Severo durch seine Beziehungen zum französischen Botschafter
bekam, war so rosig, rund und süß, daß sie nach wenigen
Monaten schwanger war, und bei näherer Überprüfung des
Falles stellte sich heraus, daß Luís, ein älterer Bruder Claras, der
Vater war. Severo verheiratete die beiden, ohne sie um ihre
Meinung zu fragen, und entgegen den Vorhersagen von Nivea
und ihren Freundinnen wurden sie sehr glücklich. Angesichts
solcher Erfahrungen überzeugte Nivea ihren Mann, daß für ein
Geschöpf mit telepathischen Eigenschaften das Erlernen von
Fremdsprachen keine Bedeutung habe und daß es besser sei, ihr
Klavierstunden zu geben und sie sticken lernen zu lassen.
Die kleine Clara las viel. Ihr Interesse an Büchern erstreckte
sich auf alles ohne Unterschied, die Schmöker in den
verwunschenen Koffern des Onkels Marcos waren ihr so lieb
wie die Dokumente der Liberalen Partei, die ihr Vater in seinem
Arbeitszimmer aufbewahrte. Sie füllte unzählige Hefte mit ihren
persönlichen Aufzeichnungen, und ihnen ist es zu danken, daß
die Ereignisse jener Zeit nicht im Nebel des Vergessens
versunken sind und ich sie jetzt ins Gedächtnis zurückrufen
kann. Clara, hellsichtig, kannte die Bedeutung der Träume.
Diese Fähigkeit war bei ihr natürlich, sie bedurfte nicht der
umständlichen kabbalistische n Studien, die ihr Onkel Marcos
angestrengt und mit vergleichsweise geringem Erfolg anwandte.
Der erste, der das feststellte, war der Gärtner Honorio. Eines
Tages träumte er von Schlangen, die sich um seine Füße
ringelten, und er mußte, um sie loszuwerden, auf ihnen
herumtrampeln, bis er neunzehn Stück totgetreten hatte.
Während er die Rosen beschnitt, erzählte er dem Kind den
Traum, nur um es zu unterhalten, denn er hatte es gern und es tat
ihm weh, daß es stumm war. Clara zog die Schiefertafel aus
ihrer Schürzentasche und schrieb Honorio die Deutung seines
Traumes auf. Du bekommst viel Geld, du behältst es nicht lange,
du kriegst es ohne Mühe, spiel die neunzehn. Honorio konnte
nicht lesen, aber Nivea las ihm die Botschaft lachend und unter
Scherzen vor. Der Gärtner tat, wie ihm gesagt worden war, und
gewann achtzig Pesos in einer illegalen Spielhölle hinter der
Kohlenhandlung. Er kaufte sich einen neuen Anzug, das
restliche Geld gab er für ein denkwürdiges Besäufnis mit seinen
Freunden und eine Porzellanpuppe für Clara aus. Von da an
betrieb Clara hinter dem Rücken ihrer Mutter häufig
Traumdeutung, denn sobald
Honorio die Geschichte
weitererzählte, fragten alle, was es bedeutet, mit
Schwanenflügeln einen Turm zu überfliegen; mit einem Schiff
flußabwärts zu treiben, und eine Sirene singt mit der Stimme
einer Witwe; oder Zwillinge werden geboren, die am Rücken
zusammengewachsen sind, und jedes hat ein Schwert in der
Hand. Ohne zu überlegen, schrieb Clara auf ihre Schiefertafel,
der Turm ist der Tod, und wer den Turm überfliegt, kommt bei
einem Unfall mit dem Leben davon; wer Schiffbruch erleidet
und die Sirene hört, verliert seine Arbeit und leidet Not, aber
eine Frau hilft ihm, mit der er ein Geschäft macht; die Zwillinge
sind Mann und Frau, die in ein Schicksal hineingezwungen sind
und sich gegenseitig mit Schwerthieben verwunden.
Clara erriet nicht nur Träume. Sie sah auch die Zukunft
voraus und konnte die Absicht anderer erraten, Fähigkeiten, die
sie ihr Leben lang behielt und mit der Zeit noch steigerte. Sie
kündigte den Tod ihres Paten an, des Börsenmaklers Salomon
Valdés, der sich in einem eleganten Büro an der Lampe
aufhängte, weil er glaubte, bankrott zu sein. Dort fanden sie ihn
auf das Drängen von Clara, genau so, wie sie es auf ihrer
Schiefertafel beschrieben hatte, mit dem Aussehen eines
traurigen Kalbs. Sie sagte den Leistenbruch ihres Vaters voraus,
alle Erdbeben und andere Naturereignisse: so den einzigen
Schneefall in der Hauptstadt, bei dem die Armen in den
Elendsvierteln und die Rosen in den Gärten der Reichen
erfroren, und wer der Mörder des Schulmädchens war, wußte
sie, lange bevor die Polizei die zweite Leiche entdeckte, aber
niemand schenkte ihr Glauben, und Severo wollte nicht, daß
sich seine Tochter mit den Angelegenheiten von Verbrechen
befaßte, die
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