Das Geisterhaus
kalt, von Farbe und Textur wie Alabaster. Sie war nackt und
hielt ein Bündel auf den Armen, sie ging, wie man in Träumen
geht, vom grünen Schimmer ihres Haars wie von einer Aureole
eingehüllt. Langsam sah er sie näher kommen, und als er sie
berühren wollte, warf sie das Bündel zu Boden, das vor seinen
Füßen aufschlug. Er bückte sich, hob es auf und sah ein kleines
Mädchen ohne Augen, das ihn Papa nannte. Angstvoll wachte er
auf und war den ganzen Morgen schlechter Laune. Lange bevor
er den Brief Férulas erhielt, machte der Traum ihn unruhig. Er
ging in die Küche frühstücken, wie alle Tage, und sah dort eine
Henne, die Brotkrumen aufpickte. Er versetzte ihr einen solchen
Fußtritt, daß er ihr den Bauch aufriß und sie flügelschlagend in
einer Lache aus Blut und Gedärmen liegenblieb. Das beruhigte
ihn nicht, steigerte vielmehr seine Wut. Er fühlte, daß er zu
ersticken begann. Er stieg aufs Pferd und ritt im Galopp auf die
Weiden, um das Markieren des Viehs zu überwachen.
Unterdessen kam Pedro Segudo Garcia ins Haus, der auf dem
Bahnhof San Lucas ein Paket aufgegeben und im Dorf die Post
geholt hatte. Er brachte den Brief von Férula.
Den ganzen Morgen lag der Brief auf dem Tisch im Hausflur.
Als Esteban zurückkam, badete er sich als erstes, weil er
verschwitzt und staubig war und der unverwechselbare Geruch
verschreckter Tiere ihm anhaftete. Danach setzte er sich ins
Schreibzimmer über die Rechnungsbücher und ließ sich das
Essen auf einem Tablett bringen. Den Brief seiner Schwester
sah er erst nachts, als er durchs Haus ging, wie er es immer vor
dem Schlafengehen tat, um nachzusehen, ob die Lichter gelöscht
und die Türen geschlossen waren. Der Brief war wie alle
anderen, die er von seiner Schwester erhielt, aber als er ihn in
die Hand nahm, wußte er, noch bevor er ihn öffnete, daß sein
Inhalt sein Leben verändern würde. Er hatte die gleiche
Empfindung wie damals, als er das Telegramm seiner Schwester
in Händen hielt, das ihm, Jahre zuvor, den Tod Rosas
verkündete.
Er fühlte seine Schläfen pochen, als er ihn öffnete. Der Brief
sagte in knappen Worten, daß Doña Ester Trueba im Sterben
liege und daß Férula, die sie so viele Jahre wie eine Sklavin
gepflegt und bedient hatte, nun erleben müsse, daß ihre Mutter
sie nicht mehr anerkenne, sondern Tag und Nacht nach ihrem
Sohn verlange, weil sie nicht sterben wolle, ohne ihn noch
einmal gesehen zu haben.
Esteban hatte seine Mutter nie
wirklich geliebt, sich auch in ihrer Gegenwart nicht wohl
gefühlt, aber bei dieser Nachricht zitterte er. Er begriff, daß die
immer neuen Vorwände, die er sich ausdachte, um sie nicht
besuchen zu müssen, ihm nicht mehr halfen, daß nun der
Augenblick gekommen war, heimzufahren in die Hauptstadt und
zum letzten Mal vor diese Frau hinzutreten, die ihn mit ihrem
ranzigen Arzneigeruch, ihrem leisen Stöhnen, ihren endlosen
Gebeten in seinen Alpträumen verfolgte, diese leidende Frau,
die seine Kindheit mit Verboten und Ängsten und sein Leben als
Mann mit Verantwortung und Schuldgefühlen belastet hatte.
Er rief Pedro Segundo García und erklärte ihm die Situation.
Er nahm ihn in seine Schreibstube mit, zeigte ihm die
Rechnungsbücher des Guts und des Kramladens. Er übergab
ihm einen Bund mit allen Schlüsseln, ausgenommen den zum
Weinlager, und eröffnete ihm, daß er, Pedro Segundo, von
diesem Augenblick an bis zu seiner Rückkehr für alles auf den
Drei Marien verantwortlich sei und daß ihn jede Dummheit, die
er beginge, teuer zu stehen käme. Pedro Segundo García nahm
die Schlüssel entgegen, klemmte sich die Rechnungsbücher
unter den Arm und lächelte lustlos.
»Man tut, was man kann, Patron, mehr nicht«, sagte er
achselzuckend.
Am folgenden Tag fuhr Esteban Trueba zum erstenmal nach
Jahren den Weg zurück, der ihn aus dem Haus seiner Mutter
aufs Land geführt hatte. Im Wagen fuhr er an den Bahnhof von
San Lucas, bestieg mit seinen zwei Lederkoffern das ErsteKlasse-Abteil aus den Zeiten der Englischen
Eisenbahngesellschaft und durchquerte abermals die weiten
Felder am Fuß der Kordilleren.
Er schloß die Augen und versuchte zu schlafen, aber das Bild
seiner Mutter hielt ihn wach.
Drittes Kapitel
Hellsichtige Clara
Clara war zehn Jahre alt, als sie fand, daß Sprechen nicht
lohne, und sich in Sprachlosigkeit einschloß. Ihr Leben änderte
sich beträchtlich. Der dicke, freundliche Hausarzt, Doktor
Cuevas, versuchte ihre Stummheit mit
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