Das gelbe Hurentuch: Hannerl ermittelt (Historischer Roman) (German Edition)
hölzerne Obergaden erblickte. Wie weit musste der Ausblick von dieser Stelle aus sein! Als sich der Tross mühsam die Steigung hinaufquälte, wurde Sander das gesamte Ausmaß der Burganlage bewusst. Zahlreiche Vorburgen mit Ringmauern säumten den Weg zur Hauptburg, deren Palas nicht weniger als vier Geschosse hatte. Auf seine erstaunten Ausrufe reagierte der Patriarch missmutig. »Sander, ich weiß nicht, was du hast, das ist nur eine von vielen Burgen« oder »Sander, jetzt mach doch nicht so viel Aufhebens darum, altes Gemäuer ist das doch nur!« Der Jüngling staunte nicht schlecht, denn so abweisend hatte er seinen Oheim nur selten erlebt. Als er endlich erfuhr, dass dieser Ort einer der Lieblingsplätze der Gräfin von Tirol war, schwoll ihm die Brust vor lauter Stolz. Bernhard von Randegg wurde immer unwirscher und konnte die Jubelschreie seines Mündels nicht verstehen, als sie die prunkvollen Herrenräume im Palas bezogen. Sander war sich einmal mehr ganz sicher, dass die schlechte Laune seines Oheims mit der nahenden Ankunft der Wolkenberger zusammenhängen musste. Es gab einfach keine andere Erklärung. Was würde ihn da wohl erwarten, wenn schon sein besonnener Onkel unruhig wurde?
Nun, wenige Tage, nachdem sich der Tross des Patriarchen auf der Burg eingerichtet hatte, ritt die Vorhut der Wolkenberger in den Burghof. Sander hatte fest vor, sich einen ersten Eindruck von den Ankommenden aus dem sicheren Obergeschoss zu machen. Doch weit gefehlt! Nach einem kurzen Gespräch mit den angekommenen Reitern ließ Bernhard sein Mündel holen und wies ihn an, den bevorstehenden Besuch gemeinsam würdig zu empfangen.
Schon von Weitem konnte Sander eine hoch aufgerichtete Gestalt, die auf einem wunderschönen Falben saß, ausmachen und daneben eine kleinere auf einem Apfelschimmel. Kein Zweifel, das mussten Friedrich von Wolkenberg und sein Sohn sein. Sie wirkten noch frisch und munter, was kein Wunder war, denn zum Unterschied zu Sander, der aus der Toskana angereist war, war die Stammburg der Wolkenberger, Burg Schöneck, nur weniger als 20 Meilen entfernt, einen gemütlichen Tagesritt also.
Als die Reisegesellschaft im Hof der Hauptburg abgesessen war, und während sich ein Tumult von Stallburschen, die die Pferde übernahmen, Knappen und Dienern, die die Herrschaften in die Räume des Palas geleiteten, entwickelte, blieb Ewald seelenruhig auf seinem Schimmel sitzen und musterte Sander ungeniert. Diesem entging das freilich nicht, und beschämt senkte er den Blick. Als er wieder aufsah und sich der Peinlichkeit seines Verhaltens bewusst war, stand ihm der Jüngere schon gegenüber. Viel zu nahe für Sander, keine zehn Zoll entfernt. Zaudernd wich er drei Schritte zurück und blickte kurz auf den Knaben. Ewald war mit seinen 13 Jahren etwa gleich groß wie Sander, und – wie dieser mit Unmut feststellen musste – viel kräftiger gebaut. Seine muskulösen Waden steckten in braunen Beinlingen, sein ausladender Brustkorb sprengte fast die Verschnürung an seinem grünen Wams. Sein Haar, von kastanienbrauner Farbe und bis zu den Schultern reichend, hatte die Beschaffenheit von Rosshaar, so fest und struppig lugte es unter der Kappe hervor. Seine Gesichtsfarbe hatte nichts von der Blässe, die Knaben aus vornehmer Familie oft aufwiesen, nein, Ewalds Gesicht war wettergegerbt mit rosigen dicken Backen. Alles schien an ihm größer ausgefallen zu sein, seine Nase war klobig, sein Kinn rund und seine Augen groß. Halt, was sah Sander da? Hatte der Knabe etwa die Dreistigkeit, ihm zuzuzwinkern, ohne vorher ein Wort an ihn gerichtet zu haben? Vor soviel Übermut verschlug es ihm die Sprache, und unsicher starrte er an Ewald vorbei ins Leere.
Inzwischen wurde es im Burghof wieder ruhiger, leise hörte man die Pferde in den Ställen schnauben, als sie ihre Heurationen bekamen, nur sehr weit weg konnte man die Axt hören, die der Hausbursche schwang, um genug Feuerholz in die Küchen bringen zu können. Langsam wurde das Schweigen zwischen den beiden Jünglingen unangenehm. Für Sander jedenfalls, Ewald, so schien es, schien sich gut zu unterhalten und schaute interessiert in alle Richtungen.
Da plötzlich: »Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber mir stinkt diese ganze Unternehmung hier gewaltig!« Damit hob Ewald seinen Arm aus dem warmen Reiseumhang, und in einer weit ausholenden Geste schloss er den Burghof, den Palas und die angrenzenden Wirtschaftsgebäude mit ein.
Verblüfft starrte Sander zu diesem Knaben,
Weitere Kostenlose Bücher