Das gelbe Hurentuch: Hannerl ermittelt (Historischer Roman) (German Edition)
dessen Dreistigkeit er kaum fassen konnte.
»Nicht, dass ich nicht gern auf Reisen wäre, aber das ganze Brimborium, das mein Alter und deiner hier veranstalten, geht mir auf den Geist.«
Sander blieb der Mund offen.
»Ja gut, die Burg ist im Besitz der Grafen von Tirol, aber die Hochwohlgeborenen können mir sowieso gestohlen bleiben, und«, damit drängte er sich noch näher an Sander, »die gehen ja auch nur wie unsereins auf den Abtritt, oder? Sind keineswegs besser als wir, wahrscheinlich stinken sie sogar noch mehr!« Damit warf der Junge seinen Kopf zurück und lachte offen heraus. Sanders betroffene Miene schien er zu ignorieren und munter plapperte er weiter:
»Ja sicher, mein Alter will halt einen guten Eindruck machen, und deiner auch, aber diese Speichelleckerei vor den Tiroler Grafen ist so gar nicht meines.« Erwartungsvoll blickte er Sander an. »Und du, bist du am Ende auch so ein Kriecher?«
Betroffen sah Sander Ewald ins Gesicht und rang sich zu einem leisen, kaum hörbaren »Nein, also ich weiß nicht …«, durch.
»Na, Gott sei Dank«, damit klopfte Ewald Sander auf den Rücken, sodass dieser zwei Schritte nach vorn stolperte, nahm daraufhin seinen Arm und zog ihn Richtung Herrenhaus. Wieder plauderte er weiter: »Ich dachte ja, mein Gott das Mündel vom Patriarchen von Aquileia, das wird so ein verzogener Pinkel sein, ein Weichei halt, ein Duckmäuser und Schwächling.«
Sander, der sich willig von Ewald mitzerren ließ, zuckte bei jedem Wort zusammen. »Aber wie ich sehe, bist ein kerniger Bursch!« Damit lachte er wieder schallend, und beide erreichten das Tor zum Rittersaal. »Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich brauche dringend, sehr dringend was zwischen die Zähne, das Frühstück ist schon lang her.«
Lächelnd dachte Sander jetzt an diese erste Begegnung mit Ewald zurück. Er hatte sich Gedanken gemacht, Aufpasser für ein zartes Bürschchen spielen zu müssen und war stattdessen mit einer Tiroler Urgewalt geschlagen! Als die Reise weiterging, kamen sich die beiden Burschen näher, und Sander erfuhr, dass Ewald nicht unablässig zwinkerte, sondern mit einer angeborenen Missbildung zurechtkommen musste, die das rechte Augenlid herunterhängen ließ. Aber er kam glänzend zurande mit seiner Gabe, das Leben zu nehmen, wie es war, nicht in Selbstmitleid zu versinken, sondern sich über sich selbst lustig zu machen. Nach drei weiteren Tagen auf der Burg Neuhaus verabschiedete sich Friedrich von Wolkenberg mit seinem Gefolge und überließ seinen Sohn der Fürsorge von Bernhard von Randegg.
Die Reisegruppe, die jetzt um einen Knappen reicher war, folgte der Etsch und erreichte in einem Dreitagesritt auf einer stetig aufwärts führenden Straße zwischen hohen Felswänden hindurch endlich die Passhöhe des Brenners. Dort angekommen sahen sie auf eine ebene Fläche, wo sich auch zwei Seen befanden, die nur wenig voneinander entfernt waren. Vom einen See entsprang die Etsch, die sich nach Süden wandte, vom anderen ergoss sich ein Fluss Richtung Deutschland, den die Bewohner Inn nannten. Für Sander war das nun die Wegscheide zwischen dem heimatlichen, vertrauten Süden und dem barbarischen Norden – eine Herausforderung, der er sich stellen musste, ob er nun wollte oder nicht.
Und wirklich: Die Schwierigkeiten, die zu überwinden waren, ließen nicht lang auf sich warten. Der Abstieg von der Passhöhe gestaltete sich bei Weitem schwieriger als der Aufstieg. Der Weg war steil abfallend und schmal, und an manchen Stellen führte er in langen Kehren über steile Felsen gleichsam in einen Höllenschlund. Rechts der Straße drohte ein gewaltiger Berg, links der Abgrund. Sander war schon vom Anblick der felsigen Hänge beängstigt, und er konnte langsam keine Tannen, Fichten und Föhren mehr sehen. Dazu kam ein Wettereinbruch, und zu einer Zeit, wo man in Lucca womöglich noch das Mittagsmahl im Freien genießen konnte, stapfte die Reisegesellschaft in frisch gefallenem Schnee dahin. Ganze zwei Tage kroch der Tross durch tiefe und schwer begehbare Täler am Fuß der Berge, über verschneite Saumpfade, die nicht mehr als einen Fuß breit waren. Die Menschen konnten auf diesem Weg ohne Schwierigkeiten dahinschreiten, aber Sander taten die Pferde und Maultiere leid. Sie wurden am Zügel geführt, und wenn sie mit dem einen oder anderen Bein vom Pfad abkamen, tauchten sie in den Tiefschnee ein und konnten nur mit großer Mühe und unter Gefahr herausgezogen und auf den Weg
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