Das gelbe Hurentuch: Hannerl ermittelt (Historischer Roman) (German Edition)
verschwanden.
Erst jetzt fand er die Muße, sich umzusehen und zu erkennen, dass er selbst hier in der Kirche des Erzmärtyrers Stephan nicht allein war. Zu spät bemerkte er Michael von Puchheim, den Truchsess des Hofes, auf sich zukommen und augenblicklich setzte er eine unnahbare, strenge Miene auf, wo niemand erwartet hätte, dass er sich vor wenigen Augenblicken so verwundbar wie ein kleiner Vogel gefühlt hatte, der gerade aus dem Nest gestoßen wurde.
»Meine Verehrung, Puchheim«, setzte er in lauten, schroffen Worten an und hoffte, damit die Unterhaltung schnell zu beenden. Doch beim Näherkommen von Puchheim wusste er instinktiv, dass dieser in Plauderlaune war, und er ihn schwerlich abhalten konnte, mehr als nur »Guten Morgen« zu sagen. Eitler Fatzke, dachte er und kräuselte seine Mundwinkel zu einem unehrlichen Lächeln, das dem Truchsess, der in kobaltblauen Beinlingen und einem ockerfarbenen Wams daher geschritten kam, keineswegs irritierte.
»Ja, der Kolomanistein, immer eine Verehrung wert«, setzte Puchheim, dem sein hohes Amt sichtlich in die Nase gestiegen war, so hoch, wie er sie trug, an. »Friede der Seele unseres hochwohlgeborenen Kaisers Rudolf für seine mildtätige Vorausschau«, fuhr er fort und gestikulierte auffallend schnell mit seinen Armen, um den roten Unterstoff seines Wamses gut zur Geltung bringen zu können.
Fichtenstein, der sich bemühte, seine Ungeduld zu verbergen, begnügte sich mit einem »Amen« und einem Kreuzzeichen als Antwort. Wie satt hatte er all das affektierte Getue!
»Eine Kirche wie diese kann ja nicht genug Heiligtümer vorweisen«, quasselte Puchheim weiter.
»Keiner kann genug Heiligtümer haben«, rutschte es ihm etwas zu scharf heraus. Doch der Truchsess schien das nicht zu bemerken oder wollte es nicht, jedenfalls war dieser mehr als bemüht, das Gespräch aufrechtzuhalten. Natürlich, dachte er und löste seine Finger vom Stein. Es war ja eine Ehre, mit ihm, den Hofmeister, im Gespräch vertieft gesehen zu werden, da überging der gute Puchheim so manche verbale Zurechtweisung gern. Süffisant lächelte Fichtenstein den Emporkömmling an, der sich sogleich bemühte, ein neues Gesprächsthema zu finden und die Aufmerksamkeit seines Gegenübers zu bannen.
»Wenn man bedenkt, was Rudolf für Schätze von Schwaben heimgebracht hat … Man stelle sich vor. Was da alles an Heiligtümern für Sankt Stephan vorgesehen war. Ach ja, die Unlauterkeit der Leute schreckt selbst vor den heiligsten Reliquien nicht zurück.«
»Was heißt das?«, misstrauisch reagierte Fichtenstein. Zu aufwühlend war der Gedanke, dass sich kraftbringende, wunderbare Kleinode in den Händen falscher Leute befanden. Alle Leute, außer ihm selbst, waren falsche Leute.
»Nun«, lächelte Puchheim, der sich nun der vollen Aufmerksamkeit seines Gesprächspartners bewusst war, »man munkelt, dass ein paar Heiligtümer verschollen sind. Jene, die vor gar nicht langer Zeit erst in den Besitz der Diözese und des Domes gekommen sind.«
»Jene vom Chorherrenstift Thann im Elsass?«
»Ja, genau jene.«
»Aber die wurden doch erst vor 15 Jahren dem Kaiser ausgehändigt, und zwar alle. Ich hatte die Ehre, bei der Übergabe anwesend zu sein!«
»Natürlich. Nur haben sich die Stücke auf seltsame Weise dezimiert und sind den Weg in dunkle Keller, verborgene Kammern oder zu sonst unrechtmäßigen Orten gegangen.«
Angesichts solcher haarsträubenden Neuigkeiten wurde Fichtenstein blass, und seine Hände, die sich so stark nach der Berührung des Steines gefühlt hatten, begannen wieder zu zittern. Wer hatte es gewagt und war auf verlässlichere Quellen, als er sie hatte, gestoßen? Im Geiste ratterte er die Liste der wertvollen Reliquien herunter und fragte sich einmal mehr, wer sie ihm, dem allgegenwärtigen mächtigen Hofmeister hatte vor der Nase wegschnappen können.
Er traute sich die Ungeheuerlichkeit kaum auszusprechen, geschweige denn zu fragen. Dennoch musste er es wissen, um seinen Seelenfrieden nicht zu gefährden, und begann mit dem ersten Namen auf seiner imaginären Liste: »Er meint doch wohl nicht das Haupt des Heiligen Andreas?« Mittlerweile zitterte auch seine Stimme.
»Nein, das ist wohlweislich gut im Schrein versperrt.«
Ein Seufzer der Erleichterung kam von Fichtenstein.
Puchheim sonnte sich in der Gewissheit, an Nachrichten gekommen zu sein, die den Hofmeister dermaßen aufwühlen konnten.
»Doch nicht etwa die Zunge des Heiligen Gervasius?« Wieder blickte
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