Das Geld - 18
Bruder, das unschuldige große Kind, der tüchtige Arbeiter, so gerecht und so redlich, der jetzt mit dem unauslöschlichen Makel des Gefängnisses behaftet war, das Opfer, das sie vergessen hatte, teurer und schmerzlicher als alle anderen! Nein, nie sollte Saccard Vergebung finden, und niemand sollte wagen, noch seine Sache zu verteidigen, auch jene nicht, die weiter an ihn glaubten, die nur seine Güte kannten! Allein sollte er sterben eines Tages, preisgegeben der Verachtung!
Frau Caroline schaute auf. Sie war auf dem Platz angelangt und sah vor sich die Börse. Die Dämmerung brach herein, der nebelverhangene Winterhimmel schien hinter dem Bauwerk den Rauch einer Feuersbrunst aufsteigen zu lassen, eine Wolke von düsterem Rot, daß man vermeinte, die Flammen und den Staub einer im Sturm eroberten Stadt zu sehen. Grau und düster hob sich von diesem Hintergrund die Börse ab, die in der Schwermut der Katastrophe seit einem Monat verödet war, allen vier Winden ausgesetzt, eine Markthalle nach einer Hungersnot, leer. Das war die schicksalhafte, regelmäßig wiederkehrende Seuche, deren Verwüstungen alle zehn bis fünfzehn Jahre an den schwarzen Freitagen, wie man sie nennt, den Markt ausfegen und den Boden mit Trümmern übersäen. Es braucht Jahre, bis das Vertrauen zurückkehrt und die großen Bankhäuser wieder aufgebaut sind – bis eines Tages die Spekulationswut, allmählich neu belebt, wieder aufflammt, das Abenteuer von vorn beginnt, eine neue Krise herbeiführt und in einem neuen Desaster alles zum Einsturz bringt. Aber diesmal war hinter jener rötlichen Rauchwolke am Horizont im fernen Trubel der Stadt gleichsam ein großes Krachen zu vernehmen, das nahe Ende einer Welt.
Zwölftes Kapitel
Die Ermittlung für den Prozeß ging so langsam voran, daß bereits sieben Monate seit Saccards und Hamelins Verhaftung verstrichen waren, ohne daß ein Verhandlungstermin angesetzt werden konnte. Es war Mitte September an einem Montag; Frau Caroline, die zweimal in der Woche ihren Bruder besuchte, sollte sich gegen drei Uhr in die Conciergerie106 begeben. Nie sprach sie Saccards Namen aus; auf die dringlichen Bitten, die er ihr übermitteln ließ, sie möge ihn doch besuchen, hatte sie zehnmal mit einer ausdrücklichen Weigerung geantwortet. Für sie, die auf ihrem Gerechtigkeitssinn beharrte, existierte er nicht mehr. Und sie hoffte immer noch, ihren Bruder retten zu können. An den Besuchstagen, wenn sie ihn über ihre letzten Schritte unterrichtete und ihm einen großen Strauß von Blumen brachte, die er liebte, war sie fröhlich und glücklich.
An jenem Montagmorgen band sie also einen großen roten Nelkenstrauß, als die alte Sophie, das Dienstmädchen der Fürstin dʼOrviedo, ihr sagen kam, daß die gnädige Frau sie sofort zu sprechen wünsche. Verwundert und ein wenig beunruhigt, beeilte sie sich hinaufzugehen. Sie hatte die Fürstin seit mehreren Monaten nicht gesehen, weil sie nach dem Zusammenbruch der Banque Universelle um ihre Entlassung als Sekretärin im »Werk der Arbeit« ersucht hatte. Sie begab sich nur noch hin und wieder zum Boulevard Bineau, um Victor zu besuchen; die strenge Disziplin schien den Jungen mit dem heimtückischen Blick, dessen linke Wange stärker entwickelt war als die rechte und der den Mund zu einem höhnischen Grinsen verzerrte, jetzt zu zähmen. Frau Caroline ahnte gleich, daß man sie wegen Victor rufen ließ.
Die Fürstin dʼOrviedo war nun endlich ruiniert. Knappe zehn Jahre hatten ihr genügt, um den Armen die dreihundert Millionen aus dem Erbe des Fürsten zurückzugeben, die er aus den Taschen der leichtgläubigen Aktionäre gestohlen hatte. Wenn sie zunächst fünf Jahre gebraucht hatte, um für ihre verrückten Werke der Barmherzigkeit die ersten hundert Millionen zu vergeuden, so war es ihr in viereinhalb Jahren gelungen, die restlichen zweihundert Millionen in Stiftungen von noch großartigerer Pracht zu verschwenden. Zum »Werk der Arbeit«, zur Kinderkrippe Sainte-Marie, zum Waisenhaus Saint-Joseph, zum Altersheim in Châtillon und zum Krankenhaus Saint- Marceau kamen heute ein Mustergut in der Nähe von Evreux, zwei Kindergenesungsheime an der Kanalküste, ein weiteres Altersheim in Nizza, Krankenhäuser, Arbeitersiedlungen, Bibliotheken und Schulen überall in Frankreich hinzu, nicht gerechnet die ansehnlichen Schenkungen an bereits bestehende barmherzige Werke. Die Fürstin ließ sich noch immer von dem gleichen Willen zur königlichen Rückerstattung
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