Das Geld - 18
um der diensthabenden Schwester bei der vierteljährlichen Bestandsaufnahme im Medikamentenschrank zu helfen. Dieser Schrank stand in dem Raum, der das Krankenzimmer der Mädchen von dem der Knaben trennte, wo zur Zeit nur Victor in einem der Betten lag. Die Schwester, die für ein paar Minuten hinausgegangen war, fand zu ihrer Überraschung Alice nicht wieder vor und fing an, sie zu suchen, nachdem sie einen Augenblick gewartet hatte. Ihre Verwunderung wurde noch größer, als sie feststellte, daß die Tür zum Krankenzimmer der Knaben von innen verriegelt war. Was ging da vor? Sie mußte über den Flur gehen und war dann sprachlos und zu Tode erschrocken über den Anblick, der sich ihr bot: das junge Mädchen halb erwürgt, ein Handtuch über das Gesicht gebunden, um ihre Schreie zu ersticken, die Röcke zerwühlt und hochgeschlagen über ihre armselige Blöße einer bleichsüchtigen Jungfrau, die mit schändlicher Brutalität vergewaltigt und besudelt worden war. Auf dem Fußboden lag ein leeres Portemonnaie. Victor war verschwunden. Man versuchte, die Szene zu rekonstruieren: wie Alice, vielleicht war sie gerufen worden, das Zimmer betrat, um diesem fünfzehnjährigen Knaben, behaart wie ein Mann, eine Tasse Milch zu reichen; wie dann das kleine Monstrum plötzlich Heißhunger auf dieses schwächliche Fleisch, diesen zu langen Hals bekam; wie das Mannstier, im Hemd, einen Satz machte, das Mädchen würgte, wie einen Fetzen aufs Bett warf, vergewaltigte, bestahl, sich hastig die Kleider überstreifte und flüchtete. Aber es blieben da so viele dunkle Punkte, bestürzende, unlösbare Fragen! Wie kam es, daß man nichts gehört hatte, keinen Lärm, keine Klage? Wie hatte sich dieses entsetzliche Geschehen so schnell zutragen können, in knappen zehn Minuten? Vor allem, wie hatte Victor fliehen, sich sozusagen in Luft auflösen können, ohne Spuren zu hinterlassen? Denn nach den peinlichsten Nachforschungen erlangte man die Gewißheit, daß er nicht mehr in der Anstalt war. Er mußte durch den Baderaum entkommen sein, von dort über den Flur, dann durch ein Fenster, das auf mehrere stufenweise abfallende Dächer hinausging, und von dort zum Boulevard; doch dieser Weg barg so große Gefahren, daß viele nicht glauben wollten, ein Mensch hätte ihn einschlagen können. Alice war zu ihrer Mutter gebracht worden; zerschunden, fassungslos, schluchzend und von einem heftigen Fieber geschüttelt, lag sie im Bett.
Frau Caroline hörte diesem Bericht mit solcher Ergriffenheit zu, daß ihr alles Blut im Herzen zu Eis zu erstarren schien. Eine Erinnerung war erwacht und erschreckte sie als gräßliche Parallele: Saccard hatte einst die elende Rosalie auf einer Treppenstufe genommen und ihr die Schulter ausgerenkt, während sie dieses Kind empfing, das davon gleichsam eine zerquetschte Wange behalten hatte; und heute nun vergewaltigte Victor das erste Mädchen, das ihm in die Hände fiel. Welch sinnlose Grausamkeit! Ein junges Mädchen, das so sanft war, das traurige Ende eines Geschlechts! Dieses junge Mädchen, das im Begriff stand, sich Gott zu weihen, keinen Gatten haben durfte wie die anderen Mädchen! Hatte diese dumme, abscheuliche Begegnung denn einen Sinn? Warum mußte das eine am anderen zerbrechen?
»Ich will Ihnen keinen Vorwurf machen, Frau Caroline«, schloß die Fürstin, »denn es wäre ungerecht, Ihnen auch nur die geringste Verantwortung aufzubürden. Bloß, Sie hatten da wirklich einen schrecklichen Schützling.«
Und als folgte sie einer unausgesprochenen Gedankenverbindung, fügte sie hinzu:
»Man lebt nicht ungestraft in gewissen Milieus … Ich selbst hatte die größten Gewissensnöte, ich fühlte mich als Komplizin, als neulich diese Bank zusammengebrochen ist und so viele Trümmer, so viele Ungerechtigkeiten zurückgelassen hat … Ja, ich hätte nicht einwilligen dürfen, daß mein Haus zur Wiege eines solchen Greuels wurde … Nun, das Übel ist geschehen, das Haus soll gereinigt werden, und ich, oh, ich zähle schon nicht mehr, Gott wird mir verzeihen.«
Ihr schwaches Lächeln der endlich erfüllten Hoffnung war wieder erschienen, sie deutete mit einer Gebärde ihren Abgang von der Welt an, das endgültige Verschwinden der unsichtbaren guten Fee.
Frau Caroline hatte ihre Hände ergriffen und drückte und küßte sie, so überwältigt von Reue und Mitleid, daß sie nur zusammenhanglose Worte stammeln konnte.
»Sie haben unrecht, mich zu entschuldigen, ich bin schuldig … Diese unglückliche
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