Das Geld - 18
leiten: den Elenden sollte nicht aus Mitleid oder Furcht ein Stückchen Brot hingeworfen werden, vielmehr wollte sie den kleinen Leuten, die nichts besitzen, den Schwachen, denen die Starken ihren Anteil an der Freude gestohlen haben, den Lebensgenuß schenken, den Überfluß, alles, was gut und schön ist; die Paläste der Reichen sollten den Bettlern von der Landstraße offenstehen, damit auch sie in Seide schlafen und von goldenen Tellern essen konnten. Zehn Jahre lang hatte der Millionenregen kein Ende genommen – marmorne Speisesäle, freundlich gestrichene Schlafräume, monumentale Fassaden wie am Louvre, blühende Gärten mit seltenen Pflanzen; zehn Jahre lang war da ein einziges Bauen gewesen, eine unglaubliche Schleuderwirtschaft von Unternehmern und Architekten. Aber die Fürstin war sehr froh, sie fühlte sich erhoben durch das große Glück, von nun an saubere Hände und keinen Centime mehr zu haben. Sie hatte es erstaunlicherweise sogar geschafft, Schulden zu machen; man belangte sie wegen fälliger Rechnungen über mehrere hunderttausend Francs, ohne daß ihr Anwalt und ihr Notar diese Summe aufbringen konnten: das Riesenvermögen war endgültig zerbröckelt und in alle vier Winde des Almosens zerstreut. Auf einem Schild über dem Torweg stand zu lesen, daß das Palais zum Verkauf gestellt würde; dieser letzte Besenstrich sollte jede Spur des verfluchten Geldes, das im Schlamm und im Blut der Finanzräuberei zusammengerafft worden war, hinwegfegen.
Oben erwartete die alte Sophie Frau Caroline, um sie zur Fürstin zu bringen. Wütend schimpfte sie den ganzen Tag. Ach, sie hatte es ja immer gesagt, die Fürstin würde eines Tages noch auf einem Strohsack sterben! Wäre es nicht besser gewesen, sie hätte wieder geheiratet und mit einem anderen Herrn Kinder gehabt, wo sie doch im Grunde nur das liebte? Nicht, daß Sophie sich zu beklagen hatte und sich Sorgen machen mußte, denn sie hatte längst eine Rente von zweitausend Francs, die sie in ihrer Heimat, bei Angoulême, verzehren wollte. Aber sie geriet jedesmal in Zorn, wenn sie daran dachte, daß die Fürstin nicht einmal die paar Sous behalten hatte, die jeden Morgen für Brot und Milch, wovon sie jetzt lebte, notwendig waren. Unaufhörlich gab es zwischen den beiden Streitereien. Die Fürstin lächelte ihr göttliches Lächeln der Hoffnung und antwortete, sie werde am Ende des Monats nur noch ein Leichentuch benötigen, wenn sie erst in das Kloster eingetreten sei, das sie seit langem zu ihrem Aufenthaltsort erkoren hatte, ein von aller Welt abgeschiedenes Karmeliterinnenkloster. Ruhe, ewige Ruhe!
So, wie Frau Caroline die Fürstin seit vier Jahren kannte, fand sie sie wieder vor, in ihrem ewigen schwarzen Kleid, die Haare unter einem Spitzentuch verborgen, trotz ihrer neununddreißig Jahre noch hübsch mit ihrem runden Gesicht und den Perlzähnen; doch ihr Teint war gelb, ihr Fleisch tot wie nach zehn Jahren Klosterleben. Und in dem schmalen Zimmer, das dem Büro eines Gerichtsvollziehers in der Provinz ähnelte, hatte sich noch mehr Papier angesammelt, ein unentwirrbarer Wust, Pläne, Rechnungen, Akten, alle Belege über die Verschwendung von dreihundert Millionen.
»Frau Caroline«, sagte die Fürstin mit ihrer sanften, langsamen Stimme, die keine Erregung mehr zittern ließ, »ich wollte Ihnen eine Nachricht mitteilen, die mir heute morgen überbracht worden ist … Es handelt sich um Victor, diesen Jungen, den Sie im ›Werk der Arbeit‹ untergebracht haben …«
Frau Caroline bekam Herzklopfen vor Schmerz. Ach, das bejammernswerte Kind! Sein Vater hatte es trotz ausdrücklicher Versprechungen nicht einmal besucht in den Monaten, in denen er von seinem Dasein wußte, vor seiner Einlieferung in die Conciergerie. Was sollte nun aus Victor werden? Und obwohl sie sich dagegen wehrte, an Saccard zu denken, wurde sie durch die Aufregungen ihrer Adoptivmutterschaft ständig an ihn erinnert.
»Gestern sind schreckliche Dinge vorgefallen«, fuhr die Fürstin fort, »ein richtiges Verbrechen, das durch nichts wiedergutzumachen ist.«
Und sie erzählte mit ihrer eisigen Miene eine entsetzliche Geschichte. Vor drei Tagen hatte Victor unerträgliche Kopfschmerzen vorgetäuscht und sich auf die Krankenstation legen lassen. Der Arzt hatte zwar gewittert, daß der Faulpelz nur simulierte, aber das Kind hatte wirklich häufig unter Neuralgien zu leiden. An jenem Nachmittag nun war Alice de Beauvilliers ohne ihre Mutter ins »Werk der Arbeit« gekommen,
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