Das Geld - 18
dessen Tür weit offenstand wie die beiden Türen zum Treppenabsatz.
»Ach, da fängt Herr Sigismond wieder zu reden an. Seit dem Morgen schon redet er nur noch … Mein Gott, und das Wasser kocht! Das Wasser habe ich ja ganz vergessen! Ich hatte es für eine Tasse Tee aufgesetzt … Meine gute Dame, wenn Sie nun schon da sind, sehen Sie doch mal nach, was er will.«
Die Méchain eilte in die Küche, und Frau Caroline, von allem Leiden unwiderstehlich angezogen, trat in das Zimmer. Der kahle Raum wirkte in der hellen Aprilsonne beinahe freundlich, ein Sonnenstrahl fiel direkt auf den kleinen Tisch aus Fichtenholz, voll bepackt mit Aufzeichnungen, mit dickleibigen Heftern, die die Arbeit von zehn Jahren kaum zu fassen vermochten; ansonsten war es immer noch die gleiche kärgliche Ausstattung, die beiden Strohstühle und die Bücher auf den Regalbrettern. Drei Kopfkissen im Rücken und mit einer kurzen roten Flanellbluse bekleidet, saß Sigismond in dem schmalen eisernen Bett und redete, redete ohne Pause unter dem Einfluß jener eigentümlichen Reizung des Gehirns, die bisweilen dem Tod der Schwindsüchtigen vorangeht. Er phantasierte, hatte aber zwischendurch Augenblicke ungewöhnlicher Klarheit; aus dem abgemagerten, von langem Lockenhaar umrahmten Gesicht blickten seine maßlos geweiteten Augen fragend ins Leere.
Als Frau Caroline eintrat, schien er sie sogleich zu erkennen, obwohl sie sich nie begegnet waren.
»Oh, Sie sindʼs, Frau Caroline … Ich hatte Sie gesehen und nach Ihnen gerufen mit all meinen Kräften … Kommen Sie, kommen Sie näher, damit ich Ihnen leise erzählen kann …«
Trotz des leisen bangen Schauers, der sie überlief, trat Frau Caroline näher und mußte auf einem Stuhl dicht neben dem Bett Platz nehmen.
»Ich wußte es nicht, aber jetzt weiß ich es. Mein Bruder verkauft Papiere, und ich habe Leute dort in seinem Büro weinen hören … Mein Bruder! Ach, es hat mir das Herz wie ein glühendes Eisen durchbohrt! Ja, ich fühle es immer noch in der Brust, wie es brennt, dieses abscheuliche Geld, die arme leidende Menschheit … Und wenn ich dann bald sterben muß, wird mein Bruder meine Papiere verkaufen, aber ich will es nicht, ich will es nicht!«
Seine flehende Stimme wurde immer lauter.
»Dort liegen sie, Frau Caroline, dort auf dem Tisch. Geben Sie sie mir, wir wollen ein Paket machen, das Sie mitnehmen können, Sie sollen alles mitnehmen … Oh, ich habe Sie gerufen, ich habe auf Sie gewartet! Meine Papiere! Wenn sie verloren sind, ist alles Forschen, sind alle Mühen meines ganzen Lebens vernichtet!«
Und da sie zögerte, ihm zu geben, was er verlangte, faltete er die Hände.
»Bitte, ich will mich überzeugen, daß alle Papiere da sind, bevor ich sterbe … Mein Bruder ist nicht hier, mein Bruder kann nicht sagen, daß ich mir den Tod hole … Ich flehe Sie an …«
Da gab sie nach, erschüttert von der Inbrunst seines Bittens.
»Sie sehen, ich tue unrecht, weil ja Ihr Bruder sagt, daß Ihnen das schadet.«
»Schadet? O nein! Und wennschon, was tutʼs … Jetzt, nachdem es mir gelungen ist, in unzähligen durchwachten Nächten die Gesellschaft der Zukunft zu errichten! In diesen Papieren ist alles prophezeit und beschlossen, alle denkbare Gerechtigkeit, jedes mögliche Glück … Wie schade, daß ich nicht die Zeit hatte, das Werk in der erforderlichen Ausführlichkeit zu verfassen! Aber hier sind, vollständig und geordnet, meine Aufzeichnungen. Und nicht wahr, Sie werden sie retten, damit eines Tages ein anderer ihnen die Form des endgültigen Buches geben kann, das in aller Welt verbreitet wird …«
Mit seinen schmalen zarten Händen hatte er die Papiere genommen und blätterte sie liebevoll durch, während in seinen großen Augen, die sich bereits trübten, erneut eine Flamme aufzuckte. Er sprach sehr schnell, seine gebrochene, monotone Stimme klang wie das Ticktack einer Uhr, die stehenbleiben will; man hörte gleichsam, wie der Gehirnmechanismus noch im Fortschreiten der Agonie unablässig arbeitete.
»Oh, ich sehe das Reich der Gerechtigkeit und des Glücks klar und deutlich vor mir! Alle Menschen arbeiten, jeder hat seine persönliche Aufgabe, die ihm Pflicht ist und die er doch freiwillig tut. Die Nation ist nur noch eine riesige Gesellschaft der Kooperation, die Werkzeuge werden zum Eigentum aller, die Produkte werden in großen zentralen Speichern gelagert. Wer soundso viel nützliche Arbeit geleistet hat, kann soundso viel gesellschaftliche Konsumtion
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