Das Geld - 18
kindisch erscheinen. Die Erde ist endlich bewohnbar … Und die ganze Persönlichkeit des Menschen kann sich entfalten, kann wachsen und in vollen Zügen genießen, wird zum wahren Herrn. Die Schulen und die Fabriken stehen offen, das Kind wählt frei seinen Beruf entsprechend seinen Fähigkeiten. Schon sind Jahre dahingegangen, und durch strenge Prüfungen ist die Auslese erfolgt. Es genügt nicht mehr, die Ausbildung bezahlen zu können, man muß sie nutzen. Jeder erhält seine Aufgabe und findet je nach dem Grad seiner Intelligenz Verwendung, so daß die öffentlichen Ämter gemäß natürlichen Indizien gerecht verteilt werden. Jeder für alle, entsprechend seinen Kräften … Ein Reich des Schaffens und der Fröhlichkeit, ein Reich der Vollkommenheit, das die Fähigkeiten des Menschen in vernünftiger Weise nutzt, wo nicht mehr das alte Vorurteil gegen die körperliche Arbeit besteht, wo der große Dichter ein Tischler und der Schlosser ein großer Gelehrter sein kann! Ein glückliches Reich, ein sieghaftes Reich, dem die Menschen seit vielen Jahrhunderten entgegenschreiten und dessen weiße Mauern dort in der Ferne erglänzen … Dort in der Ferne im Glück, in der gleißenden Sonne …«
Seine Augen erloschen, die letzten Worte verklangen undeutlich in einem leisen Hauch; und sein Kopf fiel zurück, auf den Lippen das verklärte Lächeln. Er war tot.
Von Mitgefühl und Rührung überwältigt, war Frau Caroline in seinen Anblick versunken, als hinter ihr ein Sturmwind ins Zimmer zu brausen schien. Es war Busch; keuchend und von Angst gepeinigt, kam er ohne Arzt zurück, während die Méchain ihm auf den Fersen folgte und erklärte, warum sie noch keinen Tee hatte aufbrühen können, der Wassertopf sei ihr umgekippt. Da sah er seinen Bruder, sein kleines Kind, wie er ihn nannte, reglos, mit offenem Mund und starren Augen auf dem Rücken liegen; und als er begriffen hatte, fing er an zu heulen wie ein tödlich verwundetes Tier. Mit einem Satz warf er sich über den Leichnam, hob ihn mit seinen Riesenarmen in die Höhe, als wollte er ihm Leben einhauchen. Dieser schreckliche Goldfresser, der für zehn Sous einen Menschen getötet hätte, der in dem schmutzigen Paris so lange geräubert hatte, heulte seinen gräßlichen Schmerz in die Welt. Sein kleines Kind, o Gott! Das er immer zu Bett gebracht und wie eine Mutter verhätschelt hatte! Nie mehr sollte er sein kleines Kind haben! Und in einem Anfall wütender Verzweiflung raffte er die auf dem Bett verstreuten Papiere zusammen, zerriß sie und zerfetzte sie, als wollte er diese ganze törichte, eifersüchtig belauerte Arbeit, die ihm den Bruder getötet hatte, vernichten.
Frau Caroline fühlte ihr Herz schmelzen. Der unglückliche Busch! Er erregte in ihr nur noch ein göttliches Erbarmen. Aber wo nur hatte sie dieses Heulen vorher gehört? Schon einmal war ihr der Aufschrei des menschlichen Schmerzes so in die Glieder gefahren. Und sie erinnerte sich, es war bei Mazaud gewesen, das Heulen der Mutter und der Kleinen vor dem Leichnam des Vaters. Unfähig, sich diesem Leid zu verschließen, blieb sie noch einen Augenblick und machte sich nützlich. Als sie dann gehen wollte und mit der Méchain in dem engen Büro allein war, fiel ihr ein, daß sie ja eigentlich gekommen war, um etwas über Victor zu erfahren. Und sie fragte die Méchain nach ihm. Ach ja, Victor, der war über alle Berge, wenn er noch laufen konnte! Drei Monate lang hatte sie Paris abgeklappert, ohne auch nur eine Spur zu entdecken. Sie gab es jetzt auf, es wäre immer noch Zeit, diesen Banditen eines Tages auf dem Schafott wiederzufinden. Stumm und mit eisiger Miene hörte Frau Caroline ihr zu. Ja, es war vorbei, das kleine Monstrum war auf die Welt losgelassen, auf die Zukunft, auf das Unbekannte wie ein wildes Tier, das den ererbten Virus geifert und die Krankheit bei jedem Biß auf andere übertragen kann.
Draußen auf dem Bürgersteig in der Rue Vivienne war Frau Caroline von der milden Luft überrascht. Es war fünf Uhr, die Sonne ging an einem Himmel von zarter Reinheit unter und vergoldete in der Ferne die hohen Firmenschilder am Boulevard. Dieser April, so zauberhaft in seiner neuen Jugend, war wie eine Liebkosung für ihren ganzen Körper bis hinein ins Herz. Sie holte tief Luft, erleichtert und schon wieder glücklicher, weil sie fühlte, wie ihr mehr und mehr die unbezwingliche Hoffnung zurückkehrte. Was sie so bewegte, war offenbar der schöne Tod dieses Träumers, der seinen letzten
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