Das Geld - 18
hatten, durften sie Berufung einlegen und Frankreich binnen vierundzwanzig Stunden verlassen. Rougon hatte eine solche Lösung gewünscht, weil er sich den Ärger mit einem im Gefängnis sitzenden Bruder vom Halse schaffen wollte. Die Polizei selbst überwachte die Abreise Saccards, der mit einem Nachtzug nach Belgien verschwand. Am gleichen Tag war Hamelin nach Rom abgereist.
Drei weitere Monate gingen dahin, und Frau Caroline war Anfang April immer noch in Paris, wo sie die Regelung der unentwirrbaren Geschäfte zurückgehalten hatte. Und immer noch hatte sie die kleine Wohnung im Palais dʼOrviedo inne, das laut Anschlag zum Verkauf stand. Doch sie hatte jetzt endlich die letzten Schwierigkeiten behoben und konnte abreisen, freilich ohne einen Sou in der Tasche, aber auch ohne Schulden zu hinterlassen; sie sollte am nächsten Tag von Paris abfahren, um sich in Rom mit ihrem Bruder zu treffen, der dort glücklicherweise einen kleinen Posten als Ingenieur bekommen hatte. Er hatte ihr geschrieben, daß sie dort Stunden geben könnte. Ihr ganzes Leben sollte von vorn beginnen.
Als sie am Morgen dieses letzten Tages, den sie in Paris verbringen würde, aufstand, kam ihr der Wunsch, vor ihrer Abreise wenigstens noch den Versuch zu machen, etwas über Victor zu erfahren. Bis jetzt waren alle Nachforschungen vergeblich gewesen. Aber sie erinnerte sich an die Versprechungen der Méchain, sie sagte sich, daß diese Frau vielleicht etwas wisse; und es war leicht, sie zu befragen, wenn sie sich gegen vier Uhr zu Busch begab. Zunächst verwarf sie diesen Gedanken: wozu das noch, wenn doch alles vorbei war? Dann aber litt sie ernstlich darunter, das Herz tat ihr weh, als hätte sie ein Kind verloren und versäumt, beim Abschied Blumen auf sein Grab zu legen. Um vier Uhr ging sie in die Rue Feydeau.
Die beiden Türen zum Treppenabsatz standen offen, in der finsteren Küche kochte Wasser über, während in dem engen Büro auf der anderen Seite die Méchain, die in Buschs Sessel saß, in einem Wust von Papieren zu versinken schien, die sie in ungeheuren Packen aus ihrer alten Ledertasche zog.
»Ach, Sie sindʼs, meine gute Dame! Sie kommen im unpassendsten Augenblick. Herr Sigismond liegt im Sterben. Und der arme Herr Busch verliert bestimmt noch den Kopf, so sehr liebt er seinen Bruder. Wie von Sinnen läuft er herum, eben ist er fortgegangen, einen Arzt zu holen … Sie sehen, ich muß mich mit seinen Geschäften befassen, denn seit acht Tagen hat er keine Aktie mehr gekauft, geschweige denn die Nase in einen Schuldschein gesteckt. Glücklicherweise habe ich gerade einen Coup gemacht, oh, einen richtigen Coup, der wird den guten Mann ein wenig in seinem Kummer trösten, wenn er wieder zur Vernunft kommt.«
In ihrer Betroffenheit vergaß Frau Caroline, daß sie wegen Victor hier war, denn sie hatte in den Papieren, die die Méchain mit vollen Händen aus ihrer Tasche holte, entwertete Universelle-Aktien erkannt. Das alte Leder drohte aus den Nähten zu platzen, und sie zog immer mehr daraus hervor und wurde in ihrer Freude geschwätzig.
»Sehen Sie mal, das alles habe ich für zweihundertfünfzig Francs bekommen! Es sind gut und gern fünftausend Aktien, macht also einen Sou pro Stück … Da staunen Sie! Einen Sou für Aktien, die mit dreitausend Francs notiert wurden! Jetzt sind sie fast auf den Papierpreis gesunken, jawohl, Papier nach Pfunden … Aber sie sind trotzdem mehr wert, wir werden sie für mindestens zehn Sous weiterverkaufen, weil Leute, die Konkurs gemacht haben, so was suchen. Sie verstehen, diese Aktien haben einen solchen Ruf gehabt, daß sie noch was hermachen. Sie nehmen sich in den Passiva recht gut aus, es ist sehr vornehm, Opfer der Katastrophe geworden zu sein … Jedenfalls habe ich unglaubliches Glück gehabt, ich hatte die Grube gewittert, wo seit der Schlacht diese ganze Ware gelegen hat, alte Bestände aus dem Schlachthaus, die mir ein Schwachkopf für umsonst abgelassen hat, weil er nicht Bescheid wußte. Was glauben Sie, wie ich darüber hergefallen bin, im Handumdrehen hatte ich da ausgeräumt!«
Und dieser Aasgeier von den Schlachtfeldern der Finanz wurde immer vergnügter; ihre ungeheure Person schwitzte den widerlichen Fraß aus, von dem sie fett geworden, während sie mit ihren kurzen, klauenförmigen Händen in den Leichen wühlte, diesen entwerteten Papieren, die, schon vergilbt, einen ranzigen Geruch ausströmten.
Da hörte man leise eine erregte Stimme aus dem Zimmer nebenan,
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