Das Geloebnis
wußte nichts mehr.
18
Er erwachte – wo und wie viele Tage später, das ahnte er nicht. Er war umgeben von einem weichen, grünen Licht, das er nicht zu deuten vermochte, denn es war weder das Licht des Tages noch das der Nacht. Einen Augenblick glaubte er unter Wasser zu sein. Sein Körper fühlte sich sauber und kühl und leicht an. Er lag auf dem Rücken; über ihm und rings um ihn war nichts als das Grün. Dann hörte er einen klaren, scharfen Pfeifton von Menschenlippen, und eine Stimme begann auf englisch zu sprechen. Aber er verstand kein Englisch, und diese fremdartigen, herben Laute ließen ihm den Ort noch sonderbarer erscheinen. Wo war er vom Tod erwacht? Er konnte den Kopf nicht heben, um ringsum zu schauen; er öffnete und schloß seine matten Lider.
Wieder vernahm er die scharfen, herben Laute. Jetzt antwortete jemand, und diese Stimme kannte er. Es war Charlies Stimme. Noch immer war er nicht fähig, einen Ton von sich zu geben. Er zwang seine Augen offenzubleiben, und starrte in das Grün. Dann erschien zwischen ihm und dem Grünen ein Gesicht; es war das dunkle Gesicht des Inders. Der Bursche jubelte vor Freude, worauf das Gesicht sich verwandelte; nun war es Charlies Antlitz, das von weit oben her auf ihn niederblickte, und er hörte Charlies Stimme, die jetzt Worte sprach, welche er verstehen konnte.
»Sheng, bist du wach?«
Sheng machte eine ungeheure Anstrengung, und seine Stimme kam dünn wie die eines Knaben.
»Ja.«
»Erkennst du mich?« fragte Charlie.
»Ja«, erwiderte Sheng abermals.
»So weiß ich, daß du leben wirst«, sagte Charlie weich.
Aus seinem Hemd zog er ein Ei hervor, in das er behutsam ein Loch machte. Er setzte Sheng das Ei an die Lippen. »Trink. Dieses Hühnerei habe ich für dich aufgespart.«
Sheng fühlte die dickflüssige, linde Masse durch seine Kehle rinnen. Er schluckte ein paarmal und trieb dann wieder in dem grünen, fließenden Licht dahin.
Charlie Li hockte auf den Fersen und betrachtete ihn, die leere Eierschale in der Hand haltend. Shengs Gesicht zeigte noch immer ein blasses Gelb, aber das Gelb war klar.
»Er wird gesunden«, sagte Charlie zu dem Engländer.
»Dank Ihnen«, gab der Engländer zurück.
»Sie haben ihm das Sulfanilamid-Medikament gegeben«, betonte Charlie sanft.
Der Engländer lächelte leicht. »Ich wünschte, ich hätte eine Zigarette«, bemerkte er.
»Wäre ein Japs in der Nähe, so würde ich ihn töten und seine Zigaretten für Sie nehmen«, sagte Charlie.
»Wieso haben alle Japaner Zigaretten?« fragte der Engländer lässig.
»Weil sie alle auch Gewehre haben«, antwortete Charlie. Mit einem Auge spähte er in die leere Eierschale, vergrößerte dann das Loch, setzte die Schale an den Mund und leckte sie aus.
»Seit Monaten habe ich kein Ei mehr geschmeckt«, erklärte er. »Aber heute war Gott mit mir. Am Rand eines Reisfelds stolperte ich über eine schwarze Henne, die dort ihr Nest hatte. Sie hatte das Ei noch nicht gelegt, aber ich überredete sie dazu.«
»Hebamme, was?« Der Engländer grinste. »Was für komische Gesellen ihr Chinks seid!«
Bei dem Wort ›Chinks‹ blickte Charlie scharf auf. Nein, das schmale, junge Gesicht des Engländers war freundlich. Er hatte die Bemerkung ganz gedankenlos gemacht. Charlie erhob sich und zerdrückte die Eierschale in der Hand.
»Das ist das Ärgerliche bei euch verdammten Engländern«, sagte er mit seiner gefälligen Stimme, »ihr wißt nicht einmal, wann ihr uns beleidigt.«
»Hab’ ich Sie beleidigt?« fragte der Weiße erstaunt.
»Ihr beleidigt uns so selbstverständlich, wie ihr einatmet«, versetzte Charlie. Sein Gesicht war ganz ruhig, doch seine Augen waren kalt.
»Aber wieso denn?« Der Weiße war noch immer verwundert.
»Ich kenne nicht einmal Ihren Namen«, sagte Charlie.
Der Engländer sprang von dem Erdwall auf, auf dem er gelegen hatte. Seine blauen Augen waren bieder, allerdings etwas dümmlich. »Entschuldigung«, murmelte er. »Mein Name ist Dougall.«
»Ich heiße Li«, erwiderte Charlie gelassen. Keiner von beiden streckte die Hand aus. Sie standen da und blickten einander an, Charlie ganz zwanglos, der Engländer verwirrt.
»Seit zweieinhalb Tagen sind wir beisammen«, fuhr Charlie fort, »aber Sie haben mich nicht nach meinem Namen gefragt. Weil Sie mich nicht nach meinem Namen fragten, habe ich mich auch nicht nach Ihrem erkundigt. Ich bin kein ›Chink‹, wie Sie die Chinesen nennen, müssen Sie wissen. Ein echter Chinese wäre
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