Das Geloebnis
sie die Freiheit erwartet hatte, welche Hoffnung blieb ihr für ihre Söhne?
Sie überlegte eine Weile, während die Tränen noch immer auf ihren Wangen lagen, ob sie den andern den Brief vorlesen und so ihre Hoffnungen zerstören sollte oder nicht, und sie dachte bei sich: »Es wäre leichter für mich, diesen Brief zu verbergen und die schlimme Nachricht für mich zu behalten, als die Klagen meiner Schwiegermutter und die Flüche meines Schwiegervaters anzuhören.«
Gleichwohl wagte sie es nicht, diesen beiden die Nachricht über ihren eigenen Sohn selbständig zu unterschlagen, und so erhob sie sich schließlich, um sich in das Zimmer zu begeben, wo Lao Er schlief. Er lag auf der Matte auf dem Bett ausgestreckt, nackt bis auf seine kurzen blauen Hosen. Traurig blickte sie auf den Schlafenden nieder, voll Liebe und Sorge. Er verbrachte sein Dasein damit, den Feind zu täuschen, und häufig schwebte er in Gefahr, entdeckt zu werden. Doch hatten sie aufgehört von Gefahr zu sprechen, seit dem Tag, da sie ihre Angst hinausgeschrien und er gesagt hatte: »Was ich tue, muß ich tun, und ich tue es leichter, wenn du nicht davon sprichst.«
So seufzte sie jetzt und legte die Hand behutsam auf seine bloße Schulter. Aber wie zart sie ihn auch berührt hatte, er erwachte mit einem lauten Schrei, und dies zeigte, wie sehr sein innerstes Wesen von beständiger Furcht erfüllt war. Als er sah, daß sie es nur war, schämte er sich; er wischte sich den plötzlich ausgebrochenen Schweiß vom Gesicht und murmelte: »Ich bin ein Dummkopf.«
Sie antwortete nicht darauf, wohl wissend, weshalb er aufgeschrien hatte; statt dessen sagte sie: »Ich habe einen Brief von Mayli mit schlimmen Nachrichten. Du mußt mir raten, ob wir die Neuigkeiten für uns behalten oder den andern mitteilen sollen.« Hierauf las sie ihm den Brief vor; er fluchte leise vor sich hin, runzelte die Stirn, schlug sich auf die Knie, während er auf dem Bettrand saß und zuhörte.
»Ich bin froh, daß du so sprichst«, erwiderte Jade, »denn das wollte ich auch tun, doch scheute ich mich.«
Dann dachte er eine Weile nach, und sie wartete, bis er erklärte: »Was für einen Zweck hat es, den Alten das zu sagen? Sie wissen, daß sie sterben werden, bevor sie frei sind, aber sie hegen die Hoffnung, daß wir, ihre Kinder, befreit werden. Du weißt, wie mein alter Vater noch immer an das Gelöbnis der Weißen glaubt. Was wird er denken, wenn er hört, daß die Weißen uns verraten haben? Kann er dann noch leben? Und wenn wir es meinem älteren Bruder sagen, so wird er niemals den Mund vor seiner Frau halten, und sie kann nichts vor meiner Mutter verbergen. Nein, wir wollen alles verschweigen, wenigstens bis wir wissen, ob mein jüngerer Bruder tot ist oder nicht.«
Sie stand auf und legte den Brief zuunterst in einen Korb mit Winterkleidern. Nachdem sie dies getan, blickte sie Lao Er an, und er schaute sie an, und jeder las des andern Gedanken. Sie trat zu ihm, und sie faßten einander fest bei den Händen, während sie an ihre Söhne dachten. Dann räusperte sich Lao Er, und er sagte: »Ich muß wieder aufs Feld.«
Sie wischte sich die Augen und sagte: »Es ist Zeit für alle aufzustehen. Ich muß nach deinen Eltern sehen.«
So trugen diese beiden von nun an ihre eigene Verzweiflung mit sich herum.
Das burmesische Weib aber hatte Maylis Brief an Sheng in ihre Innentasche gesteckt, und sie dachte sechs Tage lang nicht mehr daran, nachdem sie heimgekehrt war. Zuerst hatte sie das vernachlässigte Haus reinigen müssen, und dann wurde ihr Mann, der sich bei ihrem Kommen erfreut gezeigt, verstimmt und niedergeschlagen, nachdem er das Kind eine Weile betrachtet hatte. Er bildete sich ein, etwas in dem Gesichtchen zu sehen, das nicht von ihm stammte, ungeachtet des Muttermals am Ohrläppchen, und sie mußte ihn beschwichtigen und ihm schmeicheln; und über alldem vergaß sie den Brief. Erst als sie sich eines Morgens daranmachte, ihr Kleid am Teich zu waschen, steckte sie die Hand in die Innentasche, um zu untersuchen, ob etwas darin war, bevor sie das Gewand naß machte, und da fand sie den Brief. Aber sie dachte sich weiter nichts dabei, zumal der Brief ja nicht verloren war, sondern steckte ihn nur in die Tasche des Kleides, das sie trug, und vergaß ihn wiederum zwei Tage. Dann erst erinnerte sie sich des Briefes, nahm ihn hervor und gab ihn ihrem Mann.
Es verhielt sich nun so, daß der Mann gerade an diesem Tag bei einer Versammlung der chinesischen Händler
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