Das Geloebnis
neue Nahrungsmittel herbeigeschafft werden konnten, bat Sheng einen Offizierskameraden, für eine Weile seinen Platz einzunehmen, und ging ungefähr zwei Kilometer weit über die Straße zu der Stelle, wo die Verwundeten waren, um die getroffene Vereinbarung einzuhalten.
Als er sich dem Lager mit heftig klopfendem Herzen näherte, gewahrte er statt der einen, die auf ihn warten sollte, am Rande des Lagers zwei Gestalten. Im Mondlicht, das hart und fast so klar wie Sonnenschein auf die Urwaldstraße niederschien, sah er Maylis lauschend erhobenen Kopf, aber an ihrer Rechten hielt sich mit beiden Händen ein kleineres, jüngeres Wesen fest. Sein glühendes Herz erstarrte. Warum hatte sie zu ihrer ersten Zusammenkunft eine Fremde mitgebracht? Wollte sie wieder dieses Spiel der zaudernden Ausflüchte beginnen, mit dem sie ihn so lange hingehalten hatte? Bei diesem Gedanken wurde er ärgerlich.
»Es ist keine Zeit mehr für Verzögerungen«, dachte er. »Damit muß sie jetzt aufhören. Ich will, daß sie sich nun mir gegenüber verhält, als ob sie ein Mann wäre und keine Frau.«
Er ging weiter, beschleunigte den Schritt vor Zorn, und sie sah seine Miene, als er sich näherte. Sie sprach nicht. Sie schaute ihn an und wartete.
»Wen hast du da mitgebracht?« fragte er kurz.
Da verstand sie die Ursache seiner Verstimmung, und sie lachte. »Sheng!« rief sie. »Du kennst sie.«
Er warf nur einen nachlässigen Blick auf Pansiao, denn es trieb ihn, mit Mayli allein zu sein. Pansiao hob scheu ihr Gesicht und betrachtete neugierig den großen Burschen mit der barschen Stimme. War das wirklich ihr dritter Bruder? Sie entsann sich seiner als eines trotzigen, aufbrausenden Knaben, der in seines Vaters Haus wie ein Sturm gewesen war. Und doch erinnerte sie sich auch, daß er sie, als sie noch klein war, manchmal mit ihm zusammen auf dem Wasserbüffel zum Weideland hatte reiten lassen, und dort oben, auf den friedvollen, sonnigen Hügeln, war er nicht rauh gewesen, sondern liebenswürdig. Er hatte das süße Gras abgerissen, in dessen grünen Blattscheiden die zarten, silbrigen Blütenköpfe zusammengefaltet lagen; einen Halm nach dem andern hatte er ihr vor den offenen Mund gehalten, und sie hatte daran geleckt, während sie lachten. Und sie erinnerte sich, daß er ihr mitunter etwas vorgesungen hatte.
»Entsinnst du dich des Liedes von den hackenden Bauern im Frühling, das du zu singen pflegtest?« fragte sie ihn. Und sie erhob ihre Stimme und sang mit klaren Trillern eine Strophe.
»Oh, woher kennt Ihr dieses Lied?« wollte er wissen. »Es ist ein Lied meiner Heimat.«
»Weil ich Pansiao bin«, erwiderte sie, und sie zitterte unter seinem ernsten, dunklen Blick.
Er starrte auf sie nieder, hielt den Atem an und zupfte sich am rechten Ohr. »Was für ein Ding bin ich«, stieß er hervor, »daß ich meine eigene Schwester nicht kenne – wenn du wirklich meine Schwester bist«, fügte er hinzu, »denn da bist du nun in diesem bösen Loch, und wie du hergekommen bist, vermag ich nicht auszudenken, und wenn ich den Rest meines Lebens darüber grübeln würde.«
Jetzt sah er nicht mehr finster aus, sondern war lebhaft und erstaunt. Er betrachtete Pansiaos Antlitz, und je länger er schaute, desto sicherer erkannte er sie.
»Wie lautet der Name meiner Schwägerin?« forschte er.
»Jade«, antwortete sie rasch.
»Und wie viele Brüder habe ich?«
»Zwei«, versetzte sie fröhlich. »Lao Ta und Lao Er, und du bist Lao San. Unser Haus ist um einen Hof mit einem kleinen Teich in der Mitte gebaut, und in dem Teich sind Goldfische. Im Sommer ist der Hof mit Matten bedeckt, und wir essen dann dort, alle miteinander. Und die kleinen Knaben meines ältesten Bruders laufen hin und her, und … und …« Sie hielt die Hand vor den Mund. »Oh, arme Orchidee«, hauchte sie, »so lange habe ich nicht mehr an dich gedacht, und du bist tot!«
»Auch die beiden Knaben sind tot«, sagte Sheng kurz.
Pansiao stieß einen Schmerzensschrei aus. »Oh, sie waren so hübsch, die beiden Knäblein!« weinte sie. »Ich erinnere mich, daß der kleinere ganz dick und weich war, wenn ich ihn hielt, und er roch nach seiner Mutter Milch wie ein Kälblein!«
Dort an dem fremden und einsamen Ort, in einer kurzen Stunde des Friedens mitten in der Nacht, umgeben von schlafenden Soldaten, das Stöhnen der Verwundeten im Ohr – so kamen sich Bruder und Schwester nahe in ihrer gemeinsamen Sehnsucht nach der Heimat.
»Wir wollen uns einen Fleck suchen,
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