Das Geloebnis
Sheng ergriff und festhielt.
»Ach, meine kleine Schwester«, sagte er traurig, »warum bist du hier? Für dich ist es schlimmer als für mich. Was kann unser Ende sein?«
»Aber es ist ein großes Glück fur mich, Mayli gefunden zu haben und jetzt auch noch dich«, entgegnete Pansiao fröhlich. »Geradesogut hätte ich hier ganz allein sein können.« Sie berichtete ihm, wie ein Zufall nach dem andern dazu geführt hatte, daß sie hierhergekommen war.
»Du warst wie ein Blatt auf einem Strom«, meinte er. »Wurdest dahingetrieben, ohne überhaupt zu wissen, wie und warum.«
»Und jetzt bin ich in Sicherheit, da ich bei euch beiden weile«, erwiderte sie behaglich.
Über ihren Kopf hinweg blickten Sheng und Mayli einander an, und beide wußten genau, was der andere dachte. Obwohl sie sich danach sehnten, allein zu sein, brachten sie es nicht über sich, dem jungen und vertrauensvollen Geschöpf in ihrer Mitte zu sagen, es möchte sie verlassen. Sie konnten nicht grausam sein, und so hörten sie zu, während die Kleine plauderte, und schauten sich über ihren Kopf hinweg an.
Immer wieder und wieder sprach sie von der Heimat.
»Weißt du noch, dritter Bruder, wie Jade versuchte, mir das Lesen beizubringen?« fragte sie. »Ich wünschte, ich könnte ihr zeigen, wie viele Schriftzeichen ich jetzt schon kenne, und ihr aus meinem Büchlein vorlesen. Ich habe das Buch noch immer in meinem Tornister.«
»Ja, wirklich«, bestätigte Mayli. »Ich habe sie ein paarmal lesen sehen.«
»In der Schule der weißen Frau lernte ich darin lesen, dort, wo ich dich zum erstenmal sah, große Schwester«, sagte Pansiao zu Mayli. »Und im ersten Augenblick, als ich dich sah, wußte ich, daß du …« Mit plötzlicher Besorgnis wandte sie sich ihrem Bruder zu. »Im ersten Augenblick, als ich diese große Schwester sah, wußte ich, daß sie eine gute Frau für dich sein würde«, schloß sie.
Sheng lachte laut. »Dasselbe habe ich immer gesagt«, vertraute er Pansiao an, »und ich sage es noch immer. Kannst du sie nicht dazu bringen, gleicher Meinung mit uns zu sein?«
Jetzt wurde Pansiao außerordentlich eifrig. Sie ergriff Maylis Hand, legte sie auf ihren Knien in Shengs Rechte und hielt beide mit ihren kleinen rauhen Händen fest.
»Oh, ihr b … beide«, stammelte sie, »solltet ihr nun nicht gleicher Meinung sein?«
Wie um ihrer Laune zu willfahren, ließ Mayli ihre Hand liegen, und Sheng schloß seine kräftige Rechte fest um ihre schmale Hand, und auf die beiden verschlungenen Hände preßte Pansiao ihre zitternden, heißen Händchen. »Bist du nicht einverstanden?« sagte sie flehend zu Mayli.
»Kind«, versetzte Mayli, »eignet sich diese Zeit und diese Stunde für solche Reden? Wer weiß, was uns der morgige Tag bringen wird?«
»Gerade deshalb sollten wir zu einer Einigung kommen«, drängte Pansiao. »Wären wir des morgigen Tages sicher, so brauchten wir uns nicht zu beeilen. Aber wenn es vielleicht kein Morgen gibt, sollten wir da nicht heute abend die Entscheidung fällen?«
»Sie hat recht«, sagte Sheng mit seiner tiefen Stimme.
Da fühlte Mayli ihr Herz flattern. Bedeutete es nicht Stärke, sich Sheng anzuverloben und so wenigstens in diesem Punkt sicher zu sein?
Doch als ob der Himmel ihr nicht einmal dies zubilligen wollte, hörten sie, bevor sie sprechen konnte, rasche Schritte, und An-lan erschien, blaß im Mondlicht, atemlos vom Laufen; ihre Augen blickten schwarz aus dem bleichen Antlitz. Sie rannte auf Mayli zu, als wären die beiden nicht vorhanden, und während des Laufens rief sie: »Oh, da bist du ja … ach, ich habe dich überall gesucht! Chi-ling … Chi-ling hat sich an einem Baum erhängt! Sie … sie ist dort drüben!« An-lan wies auf die äußere Seite des Lagers.
Mayli sprang auf und lief in die angegebene Richtung, Sheng hinter ihr drein. Hinter Sheng blieb Pansiao stehen, aber niemand dachte jetzt an sie. Sie rannten zum äußeren Waldrand, jenseits dessen die Soldaten hinter den Fahrzeugbarrikaden lagen, und dort gewahrten sie Chi-ling, eine schlanke Gestalt, die an einem knorrigen, niederen Baum hing, dessen fächerförmige Blättchen sogar in der stillen Luft zitterten.
Sheng zog sein Messer hervor, durchschnitt den Tuchstreifen, an dem sie baumelte, fing sie auf, als sie fiel, und legte sie auf den Boden. Es war wirklich Chi-ling; sie hatte ihren Gürtel in zwei Teile gerissen, eine Schlinge gemacht und sich so das Leben genommen.
Aber war wirklich kein Leben mehr in ihr?
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