Das Geloebnis
erschrockenen Augen. Sie achteten nicht auf sie, ebensowenig auf An-lan, die auf dem Ende des Baumstamms saß, den Kopf in die Hände gestützt. Chung war schon gegangen.
»Wir wollen uns so oft wie möglich abends treffen«, sagte Sheng. »Halt Ausschau nach mir, und ich will dich suchen, wenn ich frei bin.«
Sie nickte, und er entfernte sich. Als er nicht mehr zu sehen war, begab sie sich zu An-lan hinüber und legte dem Mädchen die Hand auf die Schulter. »Komm«, sagte sie.
An-lan stand auf, und jetzt kam auch Pansiao herbei, die still und angstvoll war. Mayli ergriff Pansiaos Hand, und so kehrten die drei schweigend ins Lager zurück, um zu schlafen, falls sie in den wenigen Stunden bis zum Morgen Schlaf finden würden.
16
Aber weder am nächsten Abend noch am übernächsten Abend noch an den folgenden sechs Abenden trafen sich Sheng und Mayli wieder. Denn tags darauf wurden diejenigen, die trotz Mücken und sonstigem Getier noch schliefen, von tieffliegenden Flugzeugen geweckt, die sogar auf die Nachhut feuerten, zu der Mayli und ihre Frauen gehörten. Nach der Trennung von Sheng hatte sie sich niedergelegt, Pansiao zur Seite, und sie hatte An-lan befohlen, in ihrer Sichtweite zu bleiben, unter dem Vorwand, sie vielleicht zu brauchen; in Wirklichkeit wollte sie das Mädchen beobachten, dessen Schweigen sie mißtrauisch stimmte.
Als sie sich niederlegte, glaubte sie, nicht einschlafen zu können, denn ihre Gedanken waren sorgenbeladen und kummervoll; aber da sie jung und zudem sehr müde war, schlummerte sie doch ein. Aus diesem Schlaf wurde auch sie durch das Dröhnen der nahebei explodierenden Bomben geschreckt; sie sprang auf und flüchtete, Pansiao mit sich ziehend, zum Urwald. Dort, am Rande des Dschungels, klammerten sie sich im Halbdunkel aneinander. Ein Sprühregen war kurz gefallen, ein Regen, der sie in ihrem Zelt nicht geweckt, der aber jedes Blatt und jeden Strauch durchnäßt hatte, und die Feuchtigkeit ringsum bewirkte, daß sie trotz der Hitze und der Windstille des Morgens froren. Zudem waren sie auch hier nicht sicher, denn jeder wußte, daß die Gegner wie Affen in den Bäumen umherkletterten. So schaute Mayli angstvoll um sich. Doch statt eines Gegners gewahrte sie in diesem Augenblick nahebei eine dicke, kurze Schlange, die hinter einem faulen Baumstamm den Kopf hob.
»Rühr dich nicht«, raunte sie Pansiao zu. »Eine bösartig aussehende Schlange beobachtet uns.«
Sie wagten nicht sich zu bewegen und starrten nur, aneinandergeklammert, angstvoll auf die Schlange, während über ihnen die Flugzeuge mit lautem Dröhnen aufstiegen und niedergingen und wieder aufstiegen, und wann immer sie niedergingen, da krachte der Donner. Die Schlange wurde zornig, als sie das vernahm; sie begann sich hin und her zu bewegen, den flachen Kopf aus dem Nest des eigenen Körpers emporstreckend, wobei sie eine dünne Zunge vorschnellte, die wie ein gespaltener roter Faden aussah.
Pansiao gewahrte das und wurde blaß. »Ich glaube, es ist gar keine Schlange«, flüsterte sie. »Ich glaube, es ist ein Dämon.«
In der dumpfen, feuchten Hitze standen die beiden Mädchen regungslos und beobachteten die Schlange. Sie senkte den Kopf, bewegte ihn dann langsam von rechts nach links, rückwärts und vorwärts, die runden, schwarzen Augen auf die Mädchen geheftet, und obwohl sie sich ungefähr sieben Meter entfernt befand, begann Mayli sicher zu sein, daß die Schlange Böses gegen sie beabsichtigte.
»Wir dürfen nicht hierbleiben«, raunte sie Pansiao zu. »Wir wollen uns so langsam entfernen, daß sie unsere Bewegungen nicht merkt.«
So bewegten sie sich vorsichtig wieder dem Rande des Urwalds zu, in ihrer Angst vergessend, daß über ihnen der Feind dräute. Aber während sie sich zurückzogen, schlug die Angst sie gänzlich in Bann, so daß sie schließlich ohne Überlegung, nur getrieben von sinnloser Furcht, mitten auf die Straße rannten, ohne ein einziges Mal nach der Schlange zurückzublicken.
»Ob sie uns wohl die Schuld an dem Lärm beimißt?« fragte Pansiao ängstlich, als sie innehielten.
»Vielleicht tut sie das wirklich«, erwiderte Mayli. »Daran habe ich überhaupt nicht gedacht«, fügte sie hinzu. Und inmitten der Gefahr und der rechts und links von ihnen explodierenden Bomben beschäftigte sie sich in Gedanken mit den Geschöpfen des Urwalds, die seit Beginn der Welt an Stille gewöhnt waren und nun zweifellos von dem Unverständlichen toll gemacht wurden.
Oft sollte sie in den
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