Das Gelübde einer Sterbenden
Rionne wurde noch heftiger. Er wiederholte beständig und in immer neuen Redewendungen, daß sie ihm hätte fern bleiben sollen, während sie sich fortwährend erbot zu gehen. Aber sie ging nicht und er machte dem Gespräch auch kein Ende.
Nach einer Weile senkten sich die Stimmen, während sie in längeren Sätzen und in milderem Tone sprachen. Zuletzt flüsterten sie nur noch, und nun glaubte Daniel einen Kuß zu hören. Da hielt er es für geraten, nicht länger zu bleiben. Er kehrte nach dem Entree zurück, wo er Louis antraf.
»Ich glaube, der Herr wird sich heute nicht sprechen lassen,« meinte der Kammerdiener mit seiner gewohnten Würde, ohne seine Miene zum geringsten Lächeln zu verziehen.
Daniel hatte währenddem schon die Thür geöffnet.
»Ist denn Fräulein Jeanne nicht zu Hause?« fragte er.
Louis war so erstaunt über diese Frage, daß er beinah aus seiner stolzen Ruhe gekommen wäre.
»Bewahre! Sie ist bei ihrer Tante, Frau Tellier.«
Auf Daniels Verlangen sagte er ihm auch, wo die Dame wohnte, Rue d’Amsterdam.
Von Rionne hatte eingesehen, daß er seine Tochter nicht bei sich im Hause behalten konnte. Das war ihm weiter nicht unlieb, denn er hätte sich vor der Kleinen geniren müssen, sobald er sein fideles Junggesellenleben von Neuem wieder aufnahm Er hatte sie also ohne viel Umstände und ohne sich um die Zukunft den Kopf zu zerbrechen, der Obhut seiner Schwester anvertraut. »Bei Dir ist sie besser aufgehoben,« hatte er gesagt, »denn ohne die Mitwirkung einer Frau kann man kein Mädchen erziehen. Wäre es ein Junge, so hätte ich ihn bei mir behalten.« Das log er natürlich, denn er sehnte sich nach vollständiger Ungebundenheit. Daniel ging also, indem er sorgfältig die angegebene Wohnungsadresse seinem Gedächtnis einprägte. Er verging fast vor Müdigkeit und Hunger, dachte aber keinen Augenblick daran, sich zu erholen, sondern marschierte eiligen Schrittes nach der Rue d’Amsterdam zu.
Der Regen hatte den Himmel entwölkt, die Sonne schien hell und das Straßenpflaster war schon wieder trocken geworden. Der junge Mann rieb die Kotspritzer von seinen Beinkleidern ab und glättete mit seinem Aermel seinen Zylinderhut, der einige Regentropfen abbekommen hatte.
Frau Telliers Wohnung befand sich in einem großen Hause mit breiter, flacher Fassade und dürftigen Skulpturen, wie sie in letzter Zeit allgemein aufgekommen sind. Der hohe und schmale Thorweg mündete hinten in einen Hof, wo ein Korbbeet gerade Platz fand.
In diesen Thorweg marschierte Daniel kühnlich hinein. Als er mitten drin war, wurde er beinahe von einer Kalesche übergefahren, die in raschem Trabe und mit gewaltigem Lärm hindurchrasselte. Er hatte knapp so viel Zeit, um sich auf eins der beiden seitlichen Trottoirs zu retten.
In der Kalesche saß eine fünfundzwanzig bis dreißig jährige Dame, die ihn mit hochmütiger Gleichgültigkeit anblickte. Sie trug eine sehr komplicirte, üppige Toilette und ähnelte nicht bloß in Bezug auf die Kleidertracht, sondern auch in ihrem ganzen Wesen der Julia, oder bestrebte sich wenigstens, ihr zu ähneln.
Daniel wandte sich an eine Kammerfrau, die noch auf der Freitreppe stand und der Equipage nachschaute, mit der Frage, ob Frau Tellier in dem Hause wohne.
»Sie ist eben ausgefahren,« lautete der Bescheid. »Es war die Dame, die Sie da in dem Wagen gesehen haben.«
Diese Mitteilung berührte den jungen Mann sehr peinlich. Also die so sonderbar gekleidete Dame war JuIia’s jetzige Mutter! Der Gedanke erfüllte ihn mit einer unbestimmten Bangigkeit.
Von Rionne’s Schwester, eine nüchtern verständige Natur, hatte sich schon in ihrem siebzehnten Jahr ein Programm aufgestellt, in dem Reichtum und Lebensgenuß die Hauptrolle spielten. Die Ehe betrachtete sie schon damals als eine Art Rechenaufgabe, die sie denn auch mit der kühlen Präcision eines Mathematikers gelöst hatte.
So gut sie sich bei ihrer praktischen Sinnesrichtung auf ihren Vorteil verstand, so beschränkt war ihr Gesichtskreis, wenn es sich um Gemüts- und Herzenssachen handelte. Sie bewies nur Klugheit, insofern sie ihren Körper und ihr Vermögen sehr vorteilhaft zu verwerten verstand. Aus dieser praktischen Lebensanschauung entstand bei ihr schon früh eine entschiedne Abneigung gegen den Adel, den Stand, dem sie doch selber angehörte. Sie pflegte zu sagen, bei den Leuten brächten die Männer gewöhnlich das ganze Vermögen durch, so daß ihre Frauen keine zwanzig Roben übrig behielten. Demgemäß
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