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Das Gelübde einer Sterbenden

Das Gelübde einer Sterbenden

Titel: Das Gelübde einer Sterbenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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in der Impasse Saint Dominique d’Enfer nicht verlassen. Es gefiel ihm in dem abgelegenen Winkel, wo der Lärm der Großstadt nicht zu ihm drang. Ihm wurde jedes Mal leichter und wohler zu Mut, wenn er die wackligen Stufen der breiten Treppe emporstieg. Und erinnerte sein schmales und hohes Zimmer an ein Grabgewölbe, so sagte ihm auch dies vollkommen zu; denn er war ja doch an einem Ort, wo er in stiller Verborgenheit die Welt vergessen konnte und dem er erst dann den Rücken zu wenden gedachte, wenn es Jeanne’s Interesse erheischen würde. Einstweilen liebte er aber den Himmel und die Bäume, die man von seinem Fenster aus erblickte, weil seine Augen während seiner Zukunftsträume so oft auf ihnen geweilt hatten.
    Zwölf Jahre lang wohnte er so in diesem stillen Zimmerchen. Es war für ihn ganz erfüllt von seinen Lieblingsideen, daß der bloße Gedanke an einen etwaigen Umzug ihn traurig stimmte. Er hatte die Empfindung, als würde er anderswo Jeanne nicht mehr immer vor sich sehen. Bisweilen geschah es, daß Georg am Abend Daniel nach Hause begleitete, und dann plauderten sie mit herzlichster Vertraulichkeit über die ersten Jahre ihrer Freundschaft, die sie in dem alten Hause zusammen verbracht hatten.
    Sie lebten hier sehr zurückgezogen und bekamen selten Besuch. Aber infolge dieser Vereinsamung, hatte sich auch die instinktive Anziehung, die sie ursprünglich aufeinander ausübten, in eine auf Vernunft und Überlegung begründete Achtung und Zuneigung verwandelt. Jetzt billigte bei ihnen der Verstand, was einst nur Herzenssache gewesen war. Daniel hegte für Georg vollständig brüderliche Gefühle. Er verließ sich in allem auf die Rechtschaffenheit seines Freundes, dessen eben so festen, wie milden Sinn er so oft erprobt hatte. Georg war das dritte menschliche Wesen, dem seine Liebe gehörte, und er fragte sich hin und wieder, was wohl aus ihm geworden wäre, wenn er ihn nicht kennen gelernt hätte. Bei dieser Frage dachte er aber keineswegs an die materielle Hülfe, die sein Freund ihm gewährt hatte. Für ihn war nur das freie Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden bestimmend, und wenn er auch dem Schicksal dankte, daß es ihm den Freund gesandt hatte, der ihm durchs Leben half, so dankte er ihm doch nur nebenbei dafür.
    Georg, dessen Natur eine kältere war, hatte nicht Daniels Gefühlsüberschwänglichkeit. Er sah in ihm ein großes Kind und liebte ihn wie ein älterer Bruder den jüngeren. Es war ihm schon zu Anfang ihrer Bekanntschaft nicht entgangen, welche Schätze von Liebe das Herz des Freundes barg, welch eine treue Seele in dem unscheinbaren Körper wohnte, und er hatte sich gewöhnt, nicht mehr auf das häßliche Aeußere zu achten.
    Spottete man über seinen Freund, so wunderte er sich; er konnte nicht begreifen, daß nicht Jedermann einen Mann von solchem Zartsinn und Seelenadel liebte.
    Er war auch dahinter gekommen, daß Daniel ein Geheimnis in den tiefsten Falten seines Herzens verborgen hielt, ließ es sich aber nicht beifallen, ihn auszuforschen, ihm moralischen Zwang anzuthun, um ihn mitteilsamer zu machen. Er wußte, daß Daniel eine Waise war, daß eine edle Dame sich seiner angenommen hatte und daß diese Dame gestorben war. Das genügte ihm. Wenn sein Freund ihm etwas verheimlichte, so konnte es nur etwas Gutes sein. Die zwölf Jahre über ging Daniel jeden Monat einmal nach der Rue d’Amsterdam, wagte sich aber nicht immer in das Haus hinein, sondern irrte nur eine Weile in der Nähe davor herum und raffte nur hin und wieder so viel Mut zusammen, um sich nach Jeanne zu erkundigen. An solchen Tagen stand er früh auf. Er legte den weiten Weg immer zu Fuß zurück und ging schnell, voll stiller Freude, zufrieden, daß er so ganz allein war inmitten des Menschengewimmels, und immer mit der geheimen Hoffnung, es werde ihm dies Mal vergönnt sein, sein Kind endlich wiederzusehn.
    In der Straße angelangt, ging er auf dem entgegengesetzten Bürgersteige erst lange Zeit hin und her, ohne ein Auge von der Hausthür abzuwenden. Dann wagte er sich näher heran und wartete darauf, daß ein Dienstbote herauskommen möchte. Bekam er dann niemand zu sehen, den er ausfragen konnte, so wandte er sich traurig und mißmutig wieder heimwärts oder er ging zu dem Pförtner hinein, der ihn schlecht empfing und ihn mißtrauisch ansah.
    Aber welche Freude, wenn er Jemand aus dem Hause abfangen und nach Belieben aushorchen konnte! Er war sehr schlau geworden, erfand allerhand Ausflüchte und

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