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Das Gelübde einer Sterbenden

Das Gelübde einer Sterbenden

Titel: Das Gelübde einer Sterbenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Kraft und Ausdauer viel zumutete, ohne ihm den verdienten Ruhm einzubringen, war ganz nach seinem Sinne. Es machte ihm Freude, daß er so still und unbekannt dahinleben konnte, bis er den Kampf mit der Welt würde aufnehmen müssen.
    So fleißig er war, blickte er doch bisweilen von seinem Buch auf, baute Luftschlösser und versetzte sich in die Zeit, wo Jeanne das Kloster verlassen und er sie wiedersehen würde. Diese Träumereien waren für ihn eine köstliche Erholung, die ihm Trost für die Oedigkeit seines Daseins gewährte. Die übrige Zeit funktionirte er nur wie eine Maschine. Damit sein Geist sich frei in seinen Lieblingsgedanken ergehen könnte, hatte er den Körper an die pünktliche Erledigung seiner Handlangerarbeit gewöhnt.
    Der Verfasser des Wörterbuchs hatte bald begriffen, was für einen wichtigen Dienst ihm der junge Mann leisten könnte, der wie ein Neger arbeitete und dabei nie klagte und selig vor sich hinlächelte. Schon längst sann er nämlich auf ein Mittel, wie er seine zwanzigtausend Franken verdienen könnte, ohne sich täglich nach seinem Kontor zu bemühen. Er hatte es überdrüssig auf seine Sklaven aufzupassen. Unter diesen Umständen machte er also an Daniel einen kostbaren Fund. Er übertrug ihm allmählich die Leitung des ganzen Werks, die Verteilung der Arbeit, die Durchsicht der Manuskripte, die Aussuchung der besonderen Notizen. So löste er mittelst eines Honorars von zweihundert Franken monatlich das schwierige Problem, nie eine Feder anzurühren und ein großartiges Buch zu schreiben.
    Daniel ließ sich mit Freuden eine Arbeit aufbürden, die jeden Andern erdrückt hätte. Seine Leidensgenossen kompilirten, seitdem ihnen ihr Peiniger nicht mehr auf die Finger sah, so wenig wie möglich, so daß Daniel häufig einen Teil ihrer Arbeit machen mußte. Auf diese Weise erwarb er sich bedeutende Kenntnisse, denn seine großartige Veranlagung gestattete ihm Alles so weit zu behalten, daß er die verschiedenen Wissenschaften, die er studiren mußte, beherrschen lernte und sich gewissermaßen die Encyklopädie, die er meistenteils selber aufbaute, seinem Gehirn einprägte. Dieses unausgesetzte achtjährige Studium machte ihn aus einem bescheidenen Kompilator zu einem Gelehrten ersten Ranges, so vollständig ging er in seinen mathematischen und naturwissenschaftlichen Studien auf, daß er des Abends, nach vollbrachtem Tagewerk, noch weiter arbeitete und sich in naturphilosophische Spekulationen vertiefte. Einsam wie er lebte und da seine Phantasie sich nur mit einem sechsjährigen Mädchen beschäftigte, behielt er für die Analyse eine Glut der Empfindung übrig, die Andre nur der Geliebten widmen.
    Georg Raymond drang wiederholentlich in ihn er solle der undankbaren Beschäftigung, in der er den besten Teil seiner Kraft aufrieb, entsagen und mit ihm gemeinschaftlich ein größeres Werk verfassen. Aber Daniel hatte seine Sehnsucht nach Freiheit; ihm war wohl in seiner Sklaverei, die ihm das gab, worauf sein Sinn stand, hartnäckige, unausgesetzte Arbeit. Georg war nicht mehr der arme Schlucker, als welchen ihn Daniel im Luxemburger Garten kennen gelernt hatte. Er war dank seiner Energie und seinem Fleiße auf einen grünen Zweig gekommen und fing an durch einige vorzügliche Abhandlungen über naturhistorische Themata die Aufmerksamkeit der gelehrten Welt auf sich zu ziehen.
    Endlich entschloß sich Daniel doch, sein Bureau im Stich zu lassen und Georgs Vorschlag anzunehmen. Das encyklopädische Wörterbuch war so ziemlich zu seinem Abschluß gediehen; es fehlten nur noch einige Lieferungen, zu denen das Material übrigens auch schon herbeigeschafft war.
    Die beiden Männer schienen jetzt unzertrennlich zu sein, nachdem sie freilich seit ihrer ersten Begegnung nie ihren vertraulichen Verkehr längere Zeit ausgesetzt hatten. Von nun an arbeiteten sie gemeinschaftlich und veröffentlichten mehrere von ihren Forschungen, die großes Aufsehen erregten. Daniel ließ sich dazu bewegen, den Gewinn mit seinem Freunde zu teilen, aber seine Arbeiten mit seinem Namen zu unterzeichnen, weigerte er sich hartnäckig. Betrachtete er doch diesen ganzen Abschnitt seines Lebens als verlorne Zeit, und wenn er an Wissen und Tüchtigkeit zunahm, so geschah dies, so zusagen, ohne seinen Willen, — bloß weil er nicht müßig gehen wollte.
    Georg hatte, seitdem er ein bekannter, ja beinah ein berühmter Mann geworden war, eine große Wohnung in der Rue Soufflot bezogen. Daniel dagegen mochte das alte Haus

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