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Das Gelübde einer Sterbenden

Das Gelübde einer Sterbenden

Titel: Das Gelübde einer Sterbenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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er auf den Gedanken gekommen, daß die so lange Jahre hindurch herbeigesehnte Zusammenkunft ihm so viel Pein verursachen würde. Er gedachte der stürmischen Erregung, die noch kurz zuvor, als er nach der Rue d’Amsterdam eilte, sein Innres durchtobt hatte, rief sich sein Bild wieder vor die Seele, wie er, rasend vor Begeisterung, Jeanne in Gedanken in seine Arme schloß, um sie davonzutragen. Und nun stand er, an allen Gliedern bebend, vor dem jungen Mädchen und konnte kein Sterbenswörtchen finden sie anzureden.
    Gleichwohl trieb ihn ein dunkler Drang zu Jeanne hin. Es wandelte ihn, nachdem die erste Schüchternheit vorbei war, das Gefühl an, als müßte er auf die Kniee niedersinken. Wenn er dies unterließ, so war es keineswegs Telliers Gegenwart, die ihn daran hinderte; denn er hatte vollständig vergessen, wo er sich eigentlich befand: Der furchtbare Gegensatz zwischen seiner Traumwelt und der Wirklichkeit hielt ihn festgebannt.
    Vor allen Dingen aber merkte er, daß Jeanne ihn nicht wieder erkannte. Er hatte wohl gesehen, wie verächtlich sie bei seinem Anblick den Mund verzogen hatte, und nun erfüllte gränzenlose Scham und Bitterkeit sein Herz. Also sie liebte ihn nicht und würde ihn nie lieb gewinnen. Darunter verstand er, daß sie nie zu ihm wie zu ihrem Vater aufsehen und er an ihr nie eine Tochter haben würde.
    Während diese Gedanken sein Hirn durchkreuzten, that Jeanne in ratloser Verlegenheit einige Schritte, nahm dann ihren Käfig wieder zur Hand und trippelte schleunigst davon, ohne die Schelte ihres Onkels mit einem einzigen Wort zu erwidern.
    Als sie heraus war, fuhr Tellier zu dociren fort:
    »Also, mein junger Freund, ich war bei der Theorie der Association stehen geblieben. Gesetzt, zwei Arbeiter thun sich zusammen,…«
    Und so ging es eine gute Stunde lang weiter. Daniel hörte nicht hin und nickte bloß beifällig mit dem Kopfe. Statt aufzupassen, sah er verstohlen nach der Thür, durch die Jeanne verschwunden war, und hing trübsinnigen Grübeleien nach.
     

 
VIII.
    Schon am nächsten Tage war der Umzug bewerkstelligt. Daniel bewohnte jetzt in dem Tellierschen Hause ein vier Treppen hoch gelegenes geräumiges Zimmer, dessen Fenster auf den Hof und in einen Winkel zwischen Vorder- und Seitengebäude hinausgingen.
    Er hatte des Vormittags von acht bis zwölf Uhr in dem Studirzimmer zu arbeiten, d. h. Briefe zu schreiben und die endlosen Reden des Abgeordneten anzuhören, der ihre Wirkung an seinem Sekretär ausprobiren zu wollen schien. Des Nachmittags beschäftigte er sich dann damit, Ordnung in das Werk hineinzubringen, in dem sich Tellier nicht mehr zurecht fand. Ueber den Abend konnte er nach seinem Belieben verfügen.
    Seinem Wunsche gemäß brachte man ihm sein Essen in sein Zimmer hinauf und so kam es, daß in den ersten Tagen die Hausbewohner seine Gegenwart nicht einmal bemerkten. Er begab sich nach dem Studirzimmer mit leisen Schritten und ohne sich unterwegs aufzuhalten. Ebenso still zog er sich auf sein Zimmer zurück, so dass es nicht verwunderlich war, daß man nichts von ihm sah und hörte.
    Eines Abends ging er aus, um Georg zu besuchen. Sein Freund fand, daß er krank und vergrämt aussah. Er sagte nicht, wie es ihm jetzt ging, sondern schwelgte nur in alten Erinnerungen, woraus Georg schloß, daß er den Drang spürte, sich in die Vergangenheit zurückzuflüchten. Er forderte ihn deshalb schüchtern auf wieder zu ihm zu ziehen und mit ihm an dem gemeinsamen Werk weiter zu arbeiten. Aber dieser Vorschlag erfuhr eine beinah zornige Ablehnung.
    In der That war Daniel in jener trüben Zeit nur einem Gedanken zugänglich: Er wollte Jeanne’s Charakter erforschen, er wollte wissen, was man aus seinem lieben Töchterchen gemacht hatte. Jedenfalls hatte man sie ihm vollständig umgemodelt und deshalb drängte sich ihm die sorgenvolle Frage auf, wie die unbekannte junge Dame, deren Lippen so verächtlich zu lächeln verstanden, geartet sein möge.
    Er legte sich also auf die Lauer, beobachtete Jeanne’s Thun und Treiben, suchte sich über die Bedeutung aller ihrer Worte und Handlungen, auch der geringfügigsten, klar zu werden. Bei diesem Bestreben verdroß es ihn, daß er nicht öfter und vertraulicher in ihrer Nähe weilen konnte. Kaum, daß es ihm vergönnt war, sie durch ein Zimmer huschen zu sehen, sie lachen oder einige kurze Aeußerungen hinwerfen zu hören. Sich ihr aufzudrängen wagte er nicht. Sie schien ihm ein unnahbares, von einer blendenden Glorie umgebnes

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