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Das Gelübde einer Sterbenden

Das Gelübde einer Sterbenden

Titel: Das Gelübde einer Sterbenden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Mutter geliebt, auf den Knieen, wie eine Heilige. Bei diesem Gedanken wurde der letzte Rest von Vernunft und Besonnenheit davongewirbelt und nun durchraste sein ganzes Sein ein ungeheuerlicher Drang nach Selbstaufopferung.
    Seine Liebesgefühle quollen über und drohten ihn zu ersticken. Zwölf Jahre lang hatte er so manches Mal die Hände aufs Herz gedrückt, damit es sich nicht regen und sein stummes, kaltes, passives Maschinendasein nicht stören sollte. Nun aber war das Erwachen gekommen, ein gewaltiges, leidenschaftsvolles Erwachen. Es hatte sich in seinem Herzen eine geheime, unausgesetzte Umwandlung vollzogen, indem die Liebesfähigkeit aus Mangel an freiem Spielraum gereizt und gesteigert worden und zu einer fixen Idee ausgeartet war. Sein ganzes Fühlen bewegte sich in lauter Uebertreibungen; er konnte nicht an Jeanne denken, ohne die Versuchung in die Kniee zu sinken.
    Er stand plötzlich in Telliers Arbeitszimmer, ohne zu wissen, wie er da hingekommen war. Dann hörte er die Antwort des Bedienten: »Bitte Platz zu nehmen, der Herr wird gleich kommen.« Er leistete auch der Aufforderung Folge und bemühte sich, seine geistige Ruhe wieder zu gewinnen.
    In der That erwies sich die kurze Pause als Wohlthat für ihn. Er hätte gestottert, wäre er unmittelbar vor seinen zünftigen Chef getreten. Nun blieb ihm Zeit, aufzustehen und sich die Bibliothek, so wie die hunderterlei Gegenstände anzusehen, die auf den Stühlen und dem Schreibtisch herumstanden oder lagen. Alle diese durchweg kostspieligen Sachen schienen ihm von zweifelhaftem Geschmack.
    Auf einer Konsole stand eine niedliche Statuette der Freiheit aus weißem Marmor, die Daniel für eine Venus gehalten hätte, wäre nicht die phrygische Mütze gewesen, die sie kokett auf dem krausen Haar trug.
    Während der junge Mann neugierig das Kunstwerkchen besah und sich zu fragen anfing, was er eigenlich hier thäte, hörte er hinter sich husten.
    Tellier war hereingekommen.
    Er war ein beleibter Mann mit breitem Gesicht und runden, hervorspringenden Augen. Er trug den Kopf hoch aufgerichtet und machte beim Sprechen immer ein und dieselbe Bewegung mit der rechten Hand.
    Daniel gab an, wer er sei und was ihn herführte.
    »Ich weiß schon,« antwortete Tellier, »und ich glaube, wir werden uns verständigen. Nehmen Sie gefälligst Platz« worauf er sich selber in den Lehnstuhl niederließ, der vor dem Schreibtisch stand.
    Tellier war durchaus kein schlechter Mensch und hatte bei verschiedenen Gelegenheiten Verstand bewiesen. Wenigstens in Geschäftssachen, denn außerdem verfügte er nur über drei bis vier feierliche Ideen, die so mechanisch wie die Puppen auf gewissen altmodischen Leierkasten in seinem Gehirn herumtanzten. Ruhten diese Ideen, so war er erschrecklich öde. Er litt nur an einem Laster, sich für einen großen Politiker zu halten, was eine groteske Selbstüberschätzung war. Die Maximen, die er über die Regierung der Staaten in seinen endlosen Salbadereien zum Besten gab, erinnerten nur an die schnoddrige Kritik, die Portierfrauen an den Maßregeln des Herrn Hauswirts üben. Selbstredend war er von der Wahrheit seiner Behauptungen felsenfest überzeugt und ließ sich durch nichts in der Seelenruhe stören, die ihm seine unbescheidne Dummheit verlieh.
    Seine Spezialität war schon in frühester Jugend das Wohl des Volkes und die Freiheit gewesen. Als er dann späterhin zu Reichtum gelangte und über ein ganzes Heer von Arbeitern zu kommandiren hatte, setzte er sein philanthropisches Geschwabbel fort, ohne sich je den Gedanken beikommen zu lassen, daß er besser thun würde, weniger zu reden und die Löhne zu erhöhen. Das Volk und die Freiheit waren für ihn nur Abstrakta, die er nur platonisch zu lieben brauchte.
    Als endlich sein Reichtum ins Kolossale gestiegen war, beschloß er ganz nach seiner Neigung zu leben und ließ sich deshalb zum Abgeordneten wählen.
    In der That fand er auch seine Rechnung bei diesem Berufswechsel. Empfand er doch ein ungeheures kindliches Vergnügen, wenn in den Reden, die er mit gewissenhafter Aufmerksamkeit anhörte, recht viel pompöse Schlagwörter und lange, inhaltslose Phrasen vorkamen, und kehrte er doch jedes Mal aus der Kammer mit der aufrichtigen Ueberzeugung heim, daß er wieder einmal Frankreich gerettet habe.
    Er machte stets in Opposition. Das hob ihn auch in seiner Selbstachtung, denn er war ja eine unentbehrliche Schutzwehr der Freiheit gegen die Barbarei: Im Grunde genommen wunderte er sich, daß

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