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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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geworden, schob ich die oberen Schichten fort, um zu sehen, was es dort unten zu entdecken gab.
    Es war Haar. Dunkelbraunes, langes, menschliches Haar, das zwischen den Blättern hervorschaute, vom Zufall angeordnet wie ein Strudel, die Strähnen wie Spiralarme, die locker ineinandergriffen. Jeden Moment drohten sie vom Laub verschluckt zu werden, als wäre dort unten etwas, das sie tiefer hinabzog, hinab in einen Abgrund unterhalb des Pflasters.
    Mein Herz schlug schnell, viel zu schnell. Mein Atem raste.
    Mit bebenden Händen schob ich das Laub rund um die Haarsträhnen auseinander. Ein Hinterkopf kam zum Vorschein, reglos, leblos. Ich grub weiter, hastiger, trotz meines Entsetzens und der Vorahnung dessen, was ich in den Tiefen finden mochte. Das verrottende Laub der unteren Schichten verströmte einen Geruch, der mir früher herrlich und wundersam erschienen war. Jetzt aber war er mir zuwider, erfüllte mich mit tiefstem Ekel.
    Ein Körper kam zum Vorschein, in Lumpen gehüllt.
    Ungemein klein. Kleiner noch als ein Kind. Unecht. Doch das befreiende Lachen, das in mir aufstieg, wollte mir nicht über die Lippen kommen. Kraftlos sank ich zurück ins Laub.
    Eine Puppe! Nur eine Puppe mit Menschenhaar! Unter den Lumpen ertastete ich steife Arme und Beine aus Holz, einen kartoffelförmigen Leib. Der Kopf war mit Stoff bespannt, das Gesicht aus bunten Fäden gestickt. Es lächelte nicht wie die Gesichter anderer Puppen. Der Mund war ein schmaler, waagerechter Strich, der von Haaransatz zu Haaransatz reichte, quer über die Vorderseite des Stoffschädels. Die Augen bestanden aus kleinen schwarzen Knöpfen. Bei ihrem Anblick beschlich mich der irre Verdacht, Schattenperlen wären von den Mauern herabgetropft.
    Das häßliche Ding war kaum länger als mein Unterarm. Das menschliche Haar, das man darin verarbeitet hatte, reichte bis hinab zu den klobigen Füßen. Der ganze Leib ließ sich damit umhüllen, bis nur noch die schwarzen Augen zwischen den Strähnen hervorglitzerten.
    Vielleicht hätte ich den haarigen Kobold zurück ins Laub werfen, ihn gleich wieder vergraben sollen. Statt dessen aber stand ich da, hielt ihn mit ausgestreckten Armen und betrachtete ihn eingehend. Wunderte mich über den grausam schlichten Zug seines Mundes.
    Eine Bewegung, hinter mir… Ich bemerkte sie aus dem Augenwinkel, ganz am Rande meines Blickfelds.
    Ich fuhr herum. Da war eine Gestalt, nur ein schlanker Schemen in einem langen finsteren Gewand. Dieselbe Frau, die ich bereits kurz nach meiner Ankunft bemerkt hatte. Auch jetzt folgte ihr ein Schweif aus vertrockneten Blättern. So schnell verschwand sie zwischen den Laubwällen, daß ich keine Einzelheiten erkennen konnte. Als ich loslief, um ihr zu folgen, war sie schon fort, aufgelöst im Dunkel einer Gassenmündung. Der Einschnitt, den ich so verzweifelt gesucht hatte! Wie hatte ich ihn nur übersehen können?
    Erleichtert, aber auch verwundert über die geisterhafte Erscheinung, verließ ich den ausgestorbenen Platz. Bald erkannte ich bestimmte Wege und Häuserecken wieder, die ich auf dem Hinweg passiert hatte, und wenig später stand ich wieder auf einer breiten Straße, von der ich wußte, daß sie zum Marktplatz führte.
    Als ich an mir herabblickte, um Blätter und Staub von meiner Kleidung zu klopfen, wurde mir bewußt, daß ich in einer Hand immer noch die Puppe trug. Sie hing kopfüber nach unten. Ihr langes Haar berührte fast den Boden.

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    9
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    Im Gasthof, in meiner Kammer, im Bett. Ein Traum.
    Ich hörte ein kleines Mädchen weinen, das ich nicht sehen konnte. Sein Weinen war in meinem Kopf gefangen, versuchte, durch meine Ohren ins Freie zu gelangen. Das Schluchzen und Seufzen und Jammern erfüllte mich mit Mitleid, steckte mich an mit seiner Trauer.
    Da war kein anderer Laut, nicht der geringste, obwohl ich jetzt vorwärtsging, inmitten eines Sturmes aus Blättern, die mich von allen Seiten umflatterten. Ich konnte kaum drei Schritte weit sehen, so dicht war der wirbelnde Reigen des Laubes. Dabei blieb ich selbst vom Wind völlig unberührt, ich spürte keinen Luftzug, nicht einmal einen Hauch.
    Vor mir, jenseits all des Schwirrens und Strudelns, erkannte ich eine Silhouette. Eine Frau mit schwarzem Überwurf, mit langem, dunklem Haar. Sie hatte mir den Rücken zugewandt.
    Ihr Gewand erbebte im Wind, der Saum tanzte in schwarzen Wellen über den Boden.
    Gefangen in meinem Traum überkam mich das Verlangen, ihr Gesicht zu sehen, aber auch, sie zu berühren.

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