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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Blätter dem ihres Atems entsprach. Ich fühlte jetzt das Auf- und Abschwellen ihres Brustkorbs, fühlte es durch die sanften Rundungen ihres Fleisches, an das sie meine Hände preßte.
    Der Duft ihres Haars war überwältigend, die Nähe ihres Körpers betäubend. Sie muß gewußt haben, wie schwach ich in diesem Augenblick war, denn plötzlich machte sie einen Schritt nach vorne und löste sich von mir. Sie ließ meine Hände los, und ehe ich nach ihr greifen konnte, war sie bereits außerhalb meiner Reichweite. Ihr Umhang peitschte unter einem besonders heftigen Windstoß auf und nieder, schien sie blitzschnell von mir fortzutreiben wie der Flossenschlag einer Meerjungfrau. Der Blättersturm verlor seinen Rhythmus, raste jetzt in engen Kreisen um mich herum, drang auf mich ein, als wollte er mich in Fesseln legen. Ich verlor die Fremde aus den Augen, sah nur noch braune Schlieren, so schnell und zugleich lautlos rotierten die Winde um mich herum.
    Das Weinen des kleinen Mädchens durchdrang auch jetzt noch die Stille. Töne und Bilder widersprachen sich, paßten nicht zueinander. Meine Erregung wich auf einen Schlag, und mit ihr die Bereitschaft, noch länger an diesem Ort zu bleiben.
    Ich dachte mir: Wach auf! Und so geschah es.

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    10
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    Ich frühstückte Brot und Käse und eine scharfgewürzte Rindswurst, als der Wirt an meinen Tisch trat und sagte:
    »Draußen vor der Tür wartet jemand auf Sie.«
    »Wer ist es?« fragte ich, nicht sonderlich erstaunt, erwartete ich doch nach meinem unerlaubten Besuch bei Anna eine weitere Konfrontation mit Pater Limberg.
    Um so überraschter war ich, als der Wirt sich herabbeugte und flüsterte: »Der Abbé Lambert. Er sagt, er wolle auf Sie warten und Sie nicht beim Frühstück stören, aber ich dachte mir, daß Sie es vielleicht doch schon erfahren sollten. Der Abbé ist alt und nicht mehr allzu gut auf den Beinen, und es ziemt sich nicht, ihn so lange im Freien stehenzulassen.«
    »Natürlich nicht.« Eilig trank ich meinen Becher aus, tupfte mir den Mund mit der Serviette ab und eilte zur Tür. Eine Handvoll Laub trudelte herein, als ich sie öffnete.
    Eine Treppe führte seitlich an der Hauswand hinab aufs Pflaster, ein gutes Dutzend Stufen tief. Abbé Lambert stand an ihrem Fuß und betrachtete in Gedanken versunken den verlassenen Marktplatz. Einen Augenblick lang durchzuckte mich die Vorstellung von Männern und Frauen, die verzweifelt von innen gegen ihre Haustüren schlugen, während an den Außenseiten die Laubwälle höher und höher wuchsen und alle Ausgänge versperrten.
    »Abbé Lambert?« fragte ich und stieg die Stufen hinab.
    Er schaute auf, ein uralter Mann mit dünnem, schlohweißem Haar, das der Herbstwind in langen Strähnen um seinen Schädel trieb. Aus irgendwelchen Gründen hatte ich erwartet, daß er dick sein würde, dabei war das genaue Gegenteil der Fall: Sein spindeldürrer Leib wirkte selbst unter seiner hellgrauen Mönchskutte so zerbrechlich, daß ich fürchtete, ich könnte ihn verletzen, wenn ich nur seine Hand schüttelte. Von meinem Bruder wußte ich, daß der Abbé aus Frankreich stammte. Als er sprach, tat er es mit einem klangvollen Akzent, der seiner heiseren Stimme erheblichen Charme verlieh.
    »Sie müssen Herr Brentano sein«, sagte er und lächelte höflich. »Ich freue mich, Sie endlich kennenzulernen. Ich habe schon einiges über Sie gehört.«
    Ich erreichte das Ende der Treppe und streckte ihm die Hand entgegen, unsicher, ob er einschlagen würde. Tatsächlich ergriff er sie und schüttelte sie kraftlos. Er mußte weit über Siebzig sein, schätzte ich, vielleicht sogar noch älter. Sein Rücken war leicht gebeugt, und er stützte sich auf einen Gehstock. Unter dem Saum seiner Kutte schauten formlose, ausgetretene Schuhe hervor.
    »Ich hoffe, das, was Sie gehört haben, stammt nicht nur aus dem Munde Pater Limbergs«, sagte ich mit schmerzlichem Lächeln.
    Er lachte leise, ein knarrender Laut, wie die Angeln einer uralten Tür. »Doktor Wesener war auch nicht allzu zurückhaltend. Aber seien Sie unbesorgt. Ich bin es gewohnt, mir mein eigenes Urteil bilden zu müssen.«
    Nur unwesentlich erleichtert, deutete ich eine Verbeugung an und sagte dann: »Ich hätte Sie heute ohnehin aufgesucht. Mein Bruder Christian hat viel Gutes über Sie erzählt.«
    »Passen Sie auf«, erwiderte er lachend, »ich bin immer noch eitel genug, um mir Komplimente zu Kopf steigen zu lassen.«
    »Was führt Sie zu mir?« fragte ich. »Noch dazu

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