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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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schließlich begriff ich, was sie durchmachte, und erfuhr, daß sie unter dem Neid und dem Unverständnis der übrigen Schwestern im Kloster sehr zu leiden hatte. Viele nahmen sie nicht ernst, und jene, die es taten, verhielten sich ihr gegenüber niederträchtig, als neideten sie ihr Gottes Zuneigung.« Er schüttelte bedauernd den Kopf.
    »Es war wirklich eine tragische Geschichte. Wenn sie am Morgen vor Schmerzen nicht aus dem Bett kam, ließen die anderen sie liegen, ohne sich um sie zu kümmern. Ich erkannte damals, daß Gott mir in Gestalt dieses jungen Mädchens eine Aufgabe stellte. Fortan sorgte ich für sie, brachte ihr Wasser und die wenige Nahrung, die sie zu sich nahm, verabreichte ihr die heilige Kommunion und nahm ihre Beichte entgegen.«
    Wir hatten jetzt den halben Marktplatz umrundet, und noch immer ließ sich niemand in den angrenzenden Gassen blicken.
    Die Händler, die im Morgengrauen ihre Stände aufgeschlagen hatten, begannen bereits wieder, ihre Waren
    zusammenzupacken. Das Laub, das sich in den wenigen Stunden rund um ihre Tische und Karren abgelagert hatte, erschwerte ihnen die Arbeit. Einige fluchten erbärmlich.
    »Im Herbst 1811«, fuhr der Abbé fort, »wurde das Kloster Agnetenberg geschlossen. Die Nonnen gingen fort, doch ich erwirkte die Erlaubnis, Anna den Winter über im Kloster wohnen zu lassen. Nur eine alte Magd und ich harrten mit ihr in dem verlassenen Gemäuer aus, wir pflegten sie und saßen an ihrem Bett, wenn die Ekstasen sie überkamen. Im folgenden Frühjahr aber mußten auch wir das Kloster verlassen. Anna zog mit mir in ein Quartier ganz in der Nähe. Sie bestand darauf, mir bei häuslichen Dingen zur Hand zu gehen, aber schon damals zeichnete sich ab, daß sie bald schon für immer das Bett würde hüten müssen. Sie wurde von Tag zu Tag schwächer, die Schmerzen beim Gehen unerträglicher, und ihre Visionen – nun, Sie haben ja eine erlebt, Herr Brentano.«
    Gertrud oder Anna selbst mußte ihm davon erzählt haben. Ob er auch ahnte, was Anna während ihrer Visionen sah? Falls er mehr darüber wußte, verriet er es durch keine Regung. »Im Sommer 1812 traten ihre Stigmatisationen wieder auf. Bis dahin war da nur der Wundenkranz um ihren Kopf gewesen –
    Sie wissen schon, von der Dornenkrone –, er war bereits während ihrer Kindheit aufgetreten. Jetzt aber begann es von neuem, zuerst mit einem der Kreuzzeichen auf ihrer Brust. Bis zum Winter kamen zwei weitere hinzu. Kurz nach Weihnachten erschien ihr eine Vision des gekreuzigten Heilands, und als sie wieder zu sich kam, klafften Wunden, wie von Nägeln geschlagen, in ihren Händen und Füßen, außerdem der Lanzenstich in ihrer Seite. Danach machte sie nur noch einen einzigen Versuch, ihr Bett zu verlassen, und das war im Februar 1813, vor über fünf Jahren, als ich das Zimmer im Haus des Bäckers für sie anmietete. Wir alle fürchteten schon, sie würde den Umzug nicht bewältigen können, und doch gelang es ihr, wenn auch unter Qualen.«
    »Mein Bruder sagte, daß Sie derjenige sind, der sämtliche Rechnungen begleicht.«
    »Wir wollen doch nicht über Geld reden, mein junger Freund.«
    »Aber Sie sind derjenige, der am längsten für Anna sorgt, der ihr Zimmer bezahlt und sie am besten kennt. Und doch ist Pater Limberg ihr Beichtvater, und nicht Sie.«
    Wir kamen zurück an die Treppe des Gasthofs und blieben stehen. Der Abbé scharrte mit seinem Stock im Laub. Er schaute mich nicht an, als er sagte: »Ich könnte nicht unvoreingenommen sein. Dazu stehe ich ihr zu nahe.«
    Er liebt sie, dachte ich, eine Spur erschrocken. Dieser alte, herzensgute Mann liebte Anna auf eine Weise, die weit über christliche Nächstenliebe hinausging. Limberg mußte das erkannt haben, deshalb seine Ablehnung gegenüber dem Abbé.
    Dem glaubensstrengen Pater mußte die Zuneigung des greisen Franzosen zu einer Tochter Gottes als verdammenswerte Blasphemie erscheinen.
    Eine Weile herrschte Stille, in der keiner von uns etwas zu sagen wußte. Wahrscheinlich bedauerte der Abbé gerade seine offenherzige Plauderei.
    Ich reichte ihm zum Abschied die Hand und stieg die Treppe zum Eingang hinauf, als mir plötzlich ein Gedanke kam. Ich drehte mich um und rief: »Waren Sie nicht gekommen, um mir eine Nachricht von Anna zu bringen?«
    »Aber ja doch«, entfuhr es ihm, sichtlich erleichtert, daß ich ihn aus seinen Grübeleien riß. »Sie bittet Sie, am späten Nachmittag zu ihr zu kommen.«
    Ich nickte ihm zu, bedankte mich und trat

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