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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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so früh am Morgen.«
    »Ich wollte Sie nicht stören.«
    »Das haben Sie nicht.«
    »Alte Menschen sind früh auf den Beinen. Nicht allzu standfest, fürchte ich, aber immerhin früh.« Er kicherte vergnügt. »Und mein erster Weg am Morgen führt mich stets zu Anna.«
    Mir fiel gleich auf, daß er der einzige ihrer drei Beschützer war, der sie nur beim Vornamen nannte. Wesener sagte Fräulein Emmerick, und Limberg nannte sie beharrlich Schwester Anna. Ein weiterer Grund, fand ich, den Abbé zu mögen.
    »Ich war gerade bei ihr«, fuhr er fort. »Sie hat mich gebeten, Ihnen eine Botschaft zu überbringen.«
    Sie hat es sich überlegt, dachte ich enttäuscht. Ihr ist klargeworden, daß sie einen Fehler gemacht hat, als sie mir ihr Geheimnis offenbarte. Sie wird mich fortschicken.
    Der Abbé deutete mit seinem Stock über den Marktplatz.
    »Lassen Sie uns ein paar Schritte gehen, während wir uns unterhalten. Langsame Schritte, wenn möglich.«
    Ich bot ihm meinen Arm an, damit er sich einhaken konnte, doch er schüttelte energisch den Kopf. »Ich mag alt sein, aber ich bin noch kein Tattergreis.« Er fuchtelte mit seinem Stock.
    »Also, bitte, junger Mann, gehen wir.«
    Langsam machten wir uns daran, den Platz zu umrunden, nicht ganz am Rand, weil dort das Laub zu hoch lag.
    »Verfluchte Blätter«, schimpfte der Abbé ganz und gar ungeistlich. »Das geht jetzt schon seit Tagen, ach was, seit Wochen so!« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Irgendwann wird nur noch der Wetterhahn auf dem Kirchturm aus diesem Unrat hervorschauen.«
    Ich lächelte höflich. »Wie geht es Anna heute?«
    »So, wie es ihr immer geht. Sie überspielt ihre Schmerzen. Es ist traurig, wirklich traurig.«
    »Hat sie jemals ein anderer Arzt als Doktor Wesener untersucht?«
    »Dutzende. Keiner konnte ihr Leiden lindern.«
    »Ich habe den Eindruck, daß manch einem hier auch gar nicht an einer solchen Linderung gelegen ist.«
    »Ach, wissen Sie, Pater Limberg ist ein guter Mann, wirklich.
    Manchmal mögen ihn seine hehren Ziele ein wenig über die Stränge schlagen lassen, doch das ändert nichts an seiner braven Gesinnung.«
    Ich hob die Schultern. »Sie kennen ihn natürlich besser als ich.«
    »Oh, er schätzt mich nicht besonders.« Das klang nicht, als würde ihm Limbergs Abneigung großes Kopfzerbrechen bereiten.
    Ich war zu höflich, mich nach den Gründen zu erkundigen, obwohl mir die Frage danach auf der Zunge brannte. Statt dessen sagte ich: »Um so großzügiger, daß Sie ihn in Schutz nehmen.«
    »Wir haben das gleiche Ziel. Annas Wohlergehen ist wichtiger als ein paar persönliche Querelen.«
    »Wann haben Sie sie zum ersten Mal getroffen?«
    »Wollen Sie wirklich die ganze Vorgeschichte hören?«
    »Ich bitte darum.«
    Mit der Metallspitze seines Stocks spießte er ein halbes Dutzend Blätter auf und lachte triumphierend. »Mich bekommt ihr nicht!« sagte er und spie ins Laub. Dann wandte er sich wieder an mich. »Ich bin ein geschwätziger alter Kerl, Sie werden Ihre Bitte noch bereuen. Sehen Sie, ich war früher Vikar in Demuin und damit der Diözese Amiens unterstellt.
    Ich hätte nie daran gedacht, meine Heimat zu verlassen und an diesen Ort zu gehen – weder hierher noch sonstwohin. Ich mag Frankreich, wissen Sie? Zumindest mochte ich es, bis diese Hitzköpfe in Paris ihre Revolution ausriefen. Sie verlangten von mir, daß ich ihren Konstitutionseid unterzeichne. Ich habe mich geweigert, und da wollten sie mir ans Leder, wie man hier sagt. Wie viele meiner Brüder mußte ich ins Ausland fliehen und kam schließlich nach Münster. Der Generalvikar Fürstenberg machte mich zum Beichtvater des Herzogs von Croy, hier in Dülmen. Zugleich wurde ich Meßpriester des Klosters Agnetenberg, dem Haus der Augustinerinnen.
    Langweile ich Sie schon?«
    »Ich bitte Sie! Fahren Sie nur fort.«
    »Anna half zuweilen in der Sakristei aus. Sie war sehr scheu, völlig in sich gekehrt. Eines Tages fragte ich sie, weshalb sie so verstört sei, und plötzlich war es, als hätte sie all die Wochen nur auf diese Frage gewartet. Sie schüttete mir ihr Herz aus, erzählte mir von ihren Krankheiten – ihrem schweren Hüftleiden und den gelähmten Mittelfingern –, von den Schmerzen, die sie erlitt, wenn sie für die Sünden anderer betete, und von ihren Ekstasen und Visionen. Ich hatte nichts von all dem geahnt, und erst dachte ich das gleiche wie jeder, der ihr zum ersten Mal gegenübersteht: Auch ich war überzeugt, daß sie übertrieb. Doch

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